Newtons Truhe: Gott, die Gravitation und das Gefüge der Welt
Leitartikel von Suzann-Viola Renninger
An dem Tag, an dem ich als Teenager das Gravitationsgesetz von Isaac Newton kennenlernte, begann ich an der Vernünftigkeit der Wissenschaft zu zweifeln. Schien doch die Gravitationskraft in den Religions-, nicht jedoch den Physikunterricht zu gehören. Tatsächlich hatte der Glauben an den einen und allmächtigen Gott Newton zur Idee dieser Kraft und zu der Gewissheit geführt, dass die Welt von wenigen, universellen Grundgesetzen bestimmt wird. Der Erfolg dieser Gesetze, die er 1687 in der «Philosophiae Naturalis Principia Mathematica» vorstellte, spornte seine Nachfolger an, auch in den anderen Gebieten der damaligen Natur- und auch Moralphilosophie nach allgemeinen Prinzipien zu suchen. Eine Fokussierung, die neben Erfolgen auch Nachteile mit sich brachte, da sie die Entwicklung eigenständiger und nicht an der Newtonschen Physik orientierter Erklärungsstrategien bis heute behindert. Ich meine daher, es sei lohnenswert darüber nachzudenken, inwieweit der Glaube an Gott, von dem die Wissenschaften seit der Aufklärung sich vermeintlich befreit haben, weiterhin in der Suche nach Einheit und Ordnung wirkt und die Entwicklung der modernen Wissenschaften auf zu einseitigen Bahnen hält.
In der Kleinstadt, in der ich aufwuchs, wurde ich im Sinne einer schlichten, katholischen Frömmigkeit erzogen. Die Bibel lernte ich als eine Sammlung von Familiengeschichten kennen, Adam und Eva, Abraham und Isaak, Moses und Aaron sowie die Kleinfamilie Maria, Josef und Jesus. Neben der Kinderbibel war das Märchenbuch der Brüder Grimm das zweite prägende Buch. All die buckligen Hexen, kühnen Prinzen und menschenfressenden Väter erschienen mir aus derselben Welt wie die wunderlichen Gestalten der Bibel zu stammen; ich nahm die einen wie die anderen nicht sonderlich ernst und schon gar nicht für wirklich. Als ein Geistlicher unsere Familie während eines Gottesdienstes segnete, sagte ich laut und vernehmlich: «Das ist ja nur Luft.»
Während meiner gesamten Grundschulzeit saß ich trotzig im Religions- und Kommunionsunterricht und verlor mich in Träumen, dass sich im Gymnasium alles ändern, wir Wahrheit und Wirklichkeit kennenlernen und ich die zwei Bücher meiner Kindheit hinter mir lassen würde. Doch die Ausbildung blieb volkstümlich. Unsere Geschichtslehrerin schwärmte von Alexander dem Großen, der Biologielehrer malte unermüdlich die Vererbungsgänge von grünen und gelben Erbsen an die Tafel, der Mathematiklehrer konzentrierte sich auf den Satz des Pythagoras, und der Lateinlehrer trainierte uns jahraus, jahrein im Ablativus absolutus. Ich faltete meine Zeugnisse der ersten Jahre zu Papierfliegern, warf sie aus dem Fenster und träumte von den höheren Schuljahren, in denen ich Physik und Mathematik als Hauptfächer wählen könnte. Als es endlich so weit war, schienen die Umstände vielversprechend. Ein junger, dynamischer Lehrer, frisch von der Universität, kam an unsere Schule. Er schien meine naiven Erwartungen zu erfüllen, als er mit Hilfe von Formeln in die Newtonsche Physik einführte. Doch dann stand an der Tafel das Gravitationsgesetz, nach dem die Gravitationskraft proportional zum Quadrat der Entfernung der Körper abnimmt. Ich erwartete weitere Erklärungen. Vergeblich. Das war es. Entrüstet reckte ich meinen Arm, zeigte auf das FG und rief: «Da steckt ja Gott drin!» Ab diesem Zeitpunkt verbrachte ich nicht nur den Religionsunterricht melancholisch und schweigend, sondern auch den der Physik.
Ich studierte Biologie, da ich meinte – meine Naivität war unbeirrt –, diese Disziplin beschäftigte sich mit den sichtbaren und daher wirklichen Phänomenen und käme dabei ohne Unterstellungen von geheimnisvollen Einflussgrößen wie Gott oder der Gravitationskraft aus. Biologie bedeutete für mich, von der Beobachtung auf allgemeine Sätze und Theorien zu schließen, Experimente waren dazu da, Hypothesen zu bestätigen und neue Reaktionen aus der Natur herauszukitzeln, die man als weitere Bausteine in das Theoriegefüge einsetzen konnte. Mit der Zeit würde die Biologie allgemeine Gesetze entdecken, ein ebenso gut funktionierendes Theoriengebäude wie die klassische Physik bauen können und dabei deren mathematische Sprache verwenden. Die Ordnung auch der belebten Welt schien für kurze Zeit begreifbar und ich der Wahrheit endlich näher zu kommen. Kurzum: Ich war Teil der Tradition, die Newton zur Ikone und zum Vorbild des naturwissenschaftlichen Rationalismus und Reduktionismus erhoben und dabei vergessen hatte, wie sehr die Entwicklung seiner physikalischen Theorien von Religiösität und auch Alchemie beeinflusst war.
Hypotheses non fingo. Hypothesen erdenke ich nicht. Dieses Zitat Newtons,das während meines Studiums da und dort zu hören war, irritierte mich. Waren Hypothesen nicht notwendig, um Beobachtungen anzuleiten und Experimente zu konzipieren, um mit den so gewonnenen Daten die Theorien weiterzuentwickeln?
Der letzte Magier
Knapp 25 Jahre forschte Newton am Trinity College in Cambridge. Als er 1696 die Stadt verließ, war seine «Philosophiae Naturalis Principia Mathematica» schon seit bald einem Jahrzehnt publiziert und sein Ruf als Genie gefestigt. «Newton, der die verschlossenen Bücher der Wahrheit öffnet … Keinem Sterblichen ist es erlaubt, den Göttern näherzukommen», so pries ihn der jüngere Physiker Edward Halley in dem Geleitwort zur ersten Ausgabe (Newton, 1988: 8).
Seine Hauptbeschäftigung hielt der Gepriesene vor Kollegen und der Öffentlichkeit verborgen. Kaum ein öffentliches Wort verlor er zu seinem nächtelangen Suchen nach dem Stein der Weisen. Keine Zeile publizierte er zu seinen Experimenten, die Quecksilber in Gold verwandeln sollten. Seine heterodoxe, gegen den Trinitarismus gerichtete Deutung der biblischen Schriften teilte er nur mit wenigen, seine Auslegung der Offenbarung des Johannes war fast niemanden bekannt. Als seine Zeit als Professor in Cambridge zu Ende ging, packte er all die Laborprotokolle, Notizbücher und Manuskripte in eine große Truhe. Ob er diese jemals wieder öffnete, die Schriften in die Hand nahm oder gar an ihnen weiterarbeitete, ist ungewiss. Überliefert ist, dass die meisten, die in den Jahrzehnten nach seinem Tod den Deckel hoben, seien es Männer der Kirche oder der Wissenschaft, diesen – aus Abscheu, Unverständnis oder kluger Voraussicht – wieder fallen ließen und über den Inhalt schwiegen. Denn was sie vorfanden, unterlief nicht nur die kirchliche Orthodoxie, sondern auch das Ideal, wie es die Epoche der Aufklärung schon zu Newtons Lebzeiten von der neuen Wissenschaft zu zeichnen begann: Von den Vorgaben der Religion emanzipiert, von Aberglauben und alten Dogmen befreit und allein der Empirie, Logik und Rationalität verpflichtet.
1888 erhielt die Universitätsbibliothek Cambridge die mathematischen Abhandlungen Newtons. Dass diese nur ein geringer Teil des gesamten schriftlichen Nachlasses waren, wurde erst 1936 deutlich. In diesem Jahr kamen die Manuskripte der Truhe bei Sotheby’s unter den Hammer. Der Sammler Abraham Yahud ersteigerte die religiösen Schriften, die er später der Israelischen Nationalbibliothek übergab. Der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes, aufgeschreckt durch die «Pietätslosigkeit» (Keynes, 2010: 373), versuchte – nach der Versteigerung, von der er zu spät erfahren hatte – möglichst viele der alchemistischen und biographischen Texte zusammenzukaufen.
Die Lektüre wird ihm kaum leichtgefallen sein, Newton hatte, wie unter Alchemisten üblich, eine Geheimsprache verwendet. Inklusive der Laborprotokolle – «Am Freitag dem 23 Mai gelang es mir, Jupiter auf dem Adler fliegen zu lassen» (Newton, MS. 3975) – und der von Newton verfassten Abschriften Texte anderer Alchemisten enthielten die Manuskripte rund eine Million Wörter.
J. M. Keynes las sich trotz aller Schwierigkeiten tief genug ein, um 1942 eine Rede für die von der Royal Society geplante Dreihundertjahrfeier der Geburt Newtons zu verfassen (die dann, wegen des Zweiten Weltkrieges, auf 1946 verschoben wurde). «Newton», so erklärt er in seinem Manuskript, «war nicht der erste Aufklärer. Er war der letzte Magier.» (Keynes, 2010: 363f.)
Herr Gott, der Pantokrator
«In ihm nur wird die ganze Welt zusammengehalten und in ihm wird sie bewegt…»
Dieses Zitat stammt aus dem «Scholium generale», mit dem Newton die zweite Auflage der «Principia» 1713 ergänzte (Newton, 1988: 228).Unbedingt wie ein Gebet und beschwörend im Ton, legt er hier vor, was in moderner Terminologie als Forschungsprogramm bezeichnet würde. Er positioniert sich durch die Nennung mächtiger Gegenpositionen, erläuterte seine Methodik und gibt einen Ausblick auf Zukünftiges.
Gleich im ersten Absatz opponiert Newton gegen die Descartsche Tradition, für die der Raum zwischen den Himmelskörpern nicht leer, sondern mit «himmlischer Materie», mit winzigen runden Körperchen gefüllt ist. Diese bilden, so R. Descartes 1644 in der « Principia philosophiae», Wirbel, die die Erde um die Sonne tragen, «so wie man in Flüssen, an Stellen, wo das Wasser in sich zurückkehrend Wirbel bildet, einzelne darauf schwimmende Grashalme mit dem Wasser zugleich [sich] fortbewegen sieht». «Ohne alle Künsteleien» ließen sich so sämtliche Himmelserscheinungen leicht verstehen (Descartes, 2007: 74).
Newton ist anderer Meinung. In einer Reihe von rhetorischen Fragen weist er auf die Widersprüche zwischen der Wirbeltheorie und den beobachtbaren Erscheinungen am Himmel hin und schließt mit dem Satz, dass mit den Wirbeln Schluss gemacht werden müsse.
Nachdem auf diese Weise der Himmel leergeräumt ist, wendet sich Newton der zweiten mächtigen Gegenposition zu, verklausuliert und zwischen den Zeilen, jedoch unmissverständlich (Newton, 1988: 226).
«Dieses uns sichtbare, höchst erlesene Gefüge von Sonne, Planeten und Kometen, konnte allein durch den Ratschluss und unter der Herrschaft eines intelligenten und mächtigen wahrhaft seienden Wesens entstehen.»
Es ist ein intelligentes Wesen, von dem Newton schreibt, und die Macht dieses Wesens ist ungeteilt (ebd.: 226).
«Er lenkt alles, nicht als Weltseele, sondern als der Herr aller Dinge. Und wegen seiner Herrschaft wird der Herr Gott oft Pantokrator genannt.»
Diese und weitere Stellen im «Scholium» können als Hinweis auf Newtons Unitarismus gelesen werden, einer theologischen Position aus dem 4. Jahrhundert, die die Trinitätslehre, die zentrale Doktrin des orthodoxen Christentums und auch der anglikanischen Kirche als Häresie ablehnt. Die langen, von Newton geheim gehaltenen Abhandlungen aus der Truhe sind hier explizit und zeugen unverschleiert von seiner riskanten, theologischen Außenseiterposition. Newton war 1667 zuerst als Fellow und bald darauf als Inhaber des Lucasischen Lehrstuhls für Mathematik an das Trinity College in Cambridge berufen worden. Sich öffentlich zum damals verbotenen Unitarismus zu bekennen, hätte ihm wohl Kariere und Stellung gekostet, so wie es dem weniger zurückhaltendem Unitaristen William Whiston, seinem Schüler und Nachfolger, dann 1710 passieren sollte.
Hypotheses non fingo?
Thema der Astronomie war seit jeher die Frage, wie die Erscheinungen am Himmel, also die Bewegungen der Himmelskörper zustande kämen. Noch bis in Newtons Zeiten war die Bewegungslehre des Aristoteles vorherrschend. Jeder Körper hatte danach einerseits die Tendenz, sich seinem natürlichen Ort zu nähern, das Leichte nach oben, das Schwere nach unten. Daneben gab es noch die erzwungenen Bewegungen, für die es einen äußeren Beweger brauchte, der eine anhaltend wirkende Kraft ausübte. Und nun also Newtons so andersartige Bewegungslehre. In seinem ersten Axiom oder «Gesetz der Bewegung» schreibt er (ebd.: 53):
«Jeder Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmig-geradlinigen Bewegung, sofern er nicht durch eingedrückte Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.»
Eine einwirkende Kraft ist für die gleichförmige Bewegung also nicht nötig, sondern, so das zweite Axiom, nur für die Bewegungsänderung (ebd.).
«Die Bewegungsänderung ist der eingedrückten Bewegungskraft proportional und geschieht in der Richtung der geraden Linie, in der jene Kraft eindrückt.»
Für die Naturerscheinungen des Himmels wie auch der Gezeiten auf der Erde ist diese «eingedrückte Bewegungskraft» die Gravitationskraft. Sie braucht, um zu wirken, keine Berührung. Sie dringt bis zu den Mittelpunkten der Himmelskörper. Sie verbraucht sich dabei nicht. Sie wirkt instantan, also unmittelbar. Sie dehnt sich nach allen Seiten ins Unermessliche aus und nimmt dabei mit dem Quadrat der Entfernung ab. Ihre Eigenschaften genügen, um die Planeten und Monde auf ihre Bahnen zu zwingen wie auch die Wassermassen auf der Erde zu heben und zu senken (ebd.: 299 f.).
Voltaire, der sich von 1726 bis 1728 in England vor einem königlichen Haftbefehl in Sicherheit bringen musste, hielt in seinen Briefen über diese Zeit fest, dass ein nach London reisender Franzose zusammen mit seinem Heimatland ein volles Universum verließe und in England ein leeres vorfände. Und während bei den französischen Cartesianern alles durch einen Impuls entstände, den man kaum verstehe, sei es bei Newton eine Anziehungskraft, deren Ursache ebenso unbekannt wäre (Voltaire, 2017, Briefe 14, 15). Der niederländische Mathematiker Christiaan Huygens fand das Prinzip der Anziehung in einen Brief an G. W. Leibniz «absurd» (Huygens, 1901: 538), und dieser meinte, die Gravitationskraft sei eine «scholastische okkulte Qualität», die Gott herabsetzen würde (Leibniz and Clarke, 1991).
Newtons Reaktion war kurz, bündig und selbstbewusst: «Hypotheses non fingo», bloße Hypothesen denke ich mir nicht aus. Über die Ursache der Gravitationskraft, die auf so umfassende Weise die Himmelserscheinungen erklärte, wollte er nichts sagen. Und doch tat er es.
«Hypotheses non fingo», der Satz findet sich im vorletzten Absatz des «Scholium», in dem Newton seine Methode der «experimentellen Philosophie» erklärt (1988: 230). Ausgangspunkt sind die Naturerscheinungen, jene des Weltraums und der Meere. Aus den Beobachtungen lassen sich induktiv allgemeine Lehrsätze ableiten, also «die Gesetze der Bewegung und der Schwere». Für Newton ist es somit eine durch die Empirie entschiedene Frage, dass die Gravitationskraft existiert, ihre Wirkungen durch seine drei Axiome beschrieben und von diesen ausgehend mit der mathematischen Sprache die Bewegungen der Himmelskörper und der Meere erklärt werden können. Woraus diese Kraft selbst entsteht, was wiederum ihre Ursache sei, dies habe «er aus den Naturerscheinungen noch nicht ableiten können». Diese Frage gehöre daher nicht zur experimentellen Philosophie.
Newton verwendet somit einen anderen Hypothesenbegriff als in der heutigen Praxis der Naturwissenschaften üblich. Diese, dem Popperschen Ideal folgend, versteht Hypothesen und somit auch Theorien als kühne Vermutungen, die sich in Konfrontation mit der empirischen Wirklichkeit immer nur vorläufig bewähren können. Für Newton hingegen ist die Gravitationskraft weder hypothetisch noch vorläufig. Sie ist eine unumstößliche Wahrheit, die er, in der Gewissheit, zu einem Kreis der von Gott Auserwählten zu gehören, in dem in mathematischer Sprache geschrieben Buch des Universums vorgefunden hatte.
Kehren wir nochmals zu Newtons Beschreibungen von Gott im «Scholium» zurück:
«Er währt immer und ist allgegenwärtig; und dadurch, dass er immer und überall ist, bringt er die Zeit und den Raum zum Sein.» (ebd.: 227)
Der als allmächtig, allzeitlich, allgegenwärtig und alles durchdringend verstandene Gott bringt Zeit und Raum zum Sein. Gott und das Universum werden eins und dieses muss daher dieselben Attribute haben wie Gott. Zeit und Raum werden so absolut, die Gesetze in dem Sinn vollkommen und umfassend, als sie die Bewegungen der Himmelskörper und irdischen Wassermassen ausnahmslos regieren. Die Gesetze sind mit Gott allmächtig, allzeitlich, allgegenwärtig und alles durchdringend.
In der «Query 31», mit der Newton 1717 die zweite Auflage seines weiteren Hauptwerks, der «Opticks» abschließt, beschwört er die…
«…Weisheit und Intelligenz eines mächtigen, ewig lebenden Wesens, welches allgegenwärtig die Körper durch seinen Willen in seinem unbegrenzten, gleichförmigen Empfindungsorgane [im lateinischem Original sensorium] zu bewegen und dadurch die Theile des Universums zu bilden und umzubilden vermag.» (Newton, 1983: 268)
Auch diese Stelle kann so gelesen werden, dass die Gravitationskraft mit allen ihren Eigenarten keine den Körpern intrinsische Eigenschaft ist, sondern ein Attribut Gottes.
Das Gefüge der Welt
Die «Principia» besteht aus drei Büchern. Zu Beginn des dritten mit dem Titel «Über das Gefüge der Welt» schreibt Newton (1988: 167):
«Es bleibt noch übrig, dass wir, ausgehend von eben diesen Grundlagen, das Gefüge der Welt aufzeigen.»
Die «Grundlagen» sind die in den ersten beiden Büchern dargestellten «mathematischen Gesetze und Bedingungen der Bewegung und der Kräfte». Newton verwendet sie im letzten Buch, um die zu seiner Zeit vorliegenden Messdaten zu den Bewegungen der Himmelskörper und der irdischen Meere zu erklären. Für die unbelebte Natur war so das «Gefüge der Welt» gefunden, eine mathematisch formulierte, auf wenigen Axiomen beruhende Theorie, aus der die Naturerscheinungen deduktiv abgeleitet werden konnten.
Newton verstand sich als Gelehrter der Naturphilosophie und zu dieser gehörten damals Disziplinen, die inzwischen als Physik, Chemie und Biologie kanonisiert sind. Daneben gab es noch die Moralphilosophie, das waren die Wissenschaften vom Menschen und seiner Seele, zu denen heutzutage unter anderem Psychologie, Wirtschafts- und Politikwissenschaften sowie die philosophische Ethik gehören. Über das Potential der Moralphilosophie, würde sie nur seine Methode anwenden, spekuliert Newton ebenfalls in der «Query 31» (1983: 270):
«Wenn aber die Naturphilosophie durch Befolgung dieser Methode schliesslich in allen ihren Theilen vollendet sein wird, so werden auch die Grenzen der Moralphilosophie sich erweitern. Denn soweit wir im Stande sind, durch die Naturphilosophie die erste Ursache der Dinge zu erfahren, und welche Macht sie über uns hat und welche Wohltaten wir von ihr empfangen, so weit werden uns auch durch die Erkenntnis der Natur unsere Pflichten gegen sie, wie gegen uns unter einander klar werden.»
Der im Jahrhundert nach Newton geborene Moralphilosoph Adam Smith war mit einer der ersten, der dieses Unterfangen systematisch anpackte. In der «Theorie der ethischen Gefühle» von 1759 schreibt er:
«Die menschliche Gesellschaft erscheint, wenn wir sie in einem gewissen abstrakten und philosophischen Lichte betrachten, wie eine große, ungeheure Maschine, deren regelmäßige und harmonische Bewegungen tausende angenehme Wirkungen hervorbringen.» (Smith, 2010: 526)
Auch bei Adam Smith ist der Glaube an Gott mit dem Gedanken verbunden, dass sein Untersuchungsgebiet – nun die menschliche Gesellschaft und nicht mehr ein Ensemble von Himmelskörpern – als etwas Geordnetes und daher als eine ungeheure Maschine zu verstehen sei. Da die menschlichen "Rädchen" vor allem aus Selbstinteresse handeln, wie er in seinem zweiten Werk «Der Wohlstand der Nationen» von 1776 ausführt, braucht es eine Kraft, die für ihr harmonisches und regelmässiges Zusammenspiel sorgt. Diese Kraft wird häufig mit der Metapher von der «unsichtbaren Hand» umschrieben, die somit eine der Schwerkraft analoge Funktion erhält. Bei Adam Smiths Nachfolgern, die sich bald «Ökonomen» nennen sollten und rückwirkend auch ihn als solchen vereinnahmten, war von Gott keine Rede mehr und die unsichtbare Hand des verlorenen Gottes ging im Konzept des Allgemeinen Gleichgewichts auf.
Die lobenden Worte des amerikanischen Ökonomen Paul Samuelson, die dieser in der Mitte des letzten Jahrhunderts für seinen französischen Kollegen Léon Walras, dem Urheber des allgemeinen Gleichgewichtsmodells findet, mögen hier abschließend als Demonstration genügen, wie sehr die ökonomische Disziplin von dem Newtonschen Methode, der Idee einer geordneten Welt, dem einen umfassenden Konzept, und somit theologisch bestimmt ist:
«Es gibt nur ein einziges System der Welt, und Newton war derjenige, der es fand. Gleichermaßen gibt es nur ein einziges großes Konzept des allgemeinen Gleichgewichts, und es war Walras, der die Einsicht (und das Glück) hatte, es zu finden.» (Samuelson, 1966: 1501f., Übersetzung svr)
Fazit: Das Paradox der religiösen Emanzipation
Das wissenschaftliche Weltbild, das uns für gewöhnlich an Schulen und Universitäten vermittelt wird (und für das meine zu Beginn geschilderte Ausbildung ein Beispiel sein kann), lässt uns meist übersehen, dass im Glauben an das Newtonsche «Gefüge der Welt» auch der Glaube an seinen Gott und an seine Metaphysik enthalten ist. Das «Gefüge der Welt» als dominantes oder gar ausschließliches Vorbild der sich seit dem 17. Jahrhundert entwickelten Wissenschaften ist zu einem Dogma geworden, das, wie es Dogmen nun mal zu eigen ist, meist unhinterfragt angewendet wird. Denn was in der «Principia» für die Himmelsmechanik zum Erstaunen und zur Faszination von Newtons Zeitgenossen funktionierte und weiterhin als einer der größten Leistungen in der Physik angesehen wird – eine Deduktion der Bewegungen aus wenigen Grundgesetzen –, ist auf den meisten anderen Gebieten der Natur- und Moralphilosophie erfolglos geblieben: die Entdeckung des einen großen Konzeptes, der einen Grundkraft, die die in Frage stehenden Phänomene erklären und auch vorhersagen kann.
Dies hat zu einer paradoxen Situation geführt. Gerade weil sich die Wissenschaften im Zuge der Aufklärung von Religion und Metaphysik befreiten und seither Newton als Aufklärer und nicht als «Magier» vereinnahmen, spielt zwar Gott offiziell keine Rolle mehr, stützt aber weiterhin im Hintergrund das wissenschaftliche Weltbild. Newton diskutiert sein Gottesbild unter anderem im «Scholium» und in der «Query». Er reflektiert somit in seinen beiden wichtigsten Werken seine Metaphysik und die religiösen Voraussetzungen seiner wissenschaftlichen Theorien. Er ist damit bis heute den modernen Wissenschaften voraus, die ihre Monographien nicht mit solcher Art Anhänge ergänzen.
Newtons Physik ist großartig, das sei keinen Moment in Frage gestellt. Einstein und andere haben sie seit dem letzten Jahrhundert nicht widerlegt, sondern in einen umfassenderen theoretischen Zusammenhang gestellt, und sie funktioniert bei den Geschwindigkeiten, die uns im Alltag für gewöhnlich interessieren, weiterhin genügend genau. Dies ist ein starkes Argument, die Newtonsche Physik als Vorbild zu verwenden. Doch wenn dies zu einer Einseitigkeit in den Forschungsprogrammen von der Biologie bis hin zu den Wirtschaftswissenschaften führt, dann sind wir, ohne es zu wissen, einem unbedingten Gottesglauben und dem damit verbundenen unbedingten Glauben an das «Gefüge der Welt» verfallen. Weil wir die Ursprünge unserer Wissenschaften nur bruchstückhaft kennen, weil wir Newtons Weltbild nicht mehr verstehen, verstehen wir auch nicht mehr unser eigenes.
Ich denke daher, dass eine Beschäftigung mit Newtons Schriften, mit seiner Auffassung vom «Gefüge der Welt», uns helfen kann, uns vom Imperialismus einer als zu absolut verstandenen Vorbildfunktion zu befreien und zu einem Pluralismus (auch in den Kausalitätskonzepten) zu finden, der dem Flickenteppich des Weltgefüges gerechter wird als die Suche nach der einen, vereinheitlichenden Theorie.
Suzann-Viola Renninger
Veröffentlicht im Oktober 2019
Literatur
Descartes, R. (2007) Die Prinzipien der Philosophie. Herausgegeben und übersetzt von Ch. Wohlers. Hamburg: Felix Meiner.
Huygens, C. (1901) Oeuvres Complètes De Christiaan Huygens. Publiées Par La Société Hollandaise Des Sciences. La Haye: Martinus Nijhoff.
Keynes, J. M. (2010) 'Newton, The Man (Read by Mr. Geoffrey Keynes at the Newton Tercentenary Celebrations at Trinity College, Cambridge, on 17 July 1946, and therefore not revised by the author who had written it someyears earlier.)', Essay in Biography. London: Palgrave Macmillan, pp. 363 - 374.
Leibniz, G. W. and Clarke, S. (1991) Der Leibniz-Clarke Briefwechsel. Übers. und hrsg. von Volkmar Schüller. Berlin: Akademie Verlag.
Newton, I. 'Keynes MS. 53'. Available at: webapp1.dlib.indiana.edu/newton/search (Accessed 02.10.2019).
Newton, I. 'Portsmouth Collection Add. MS. 3975', The Chymistry of Isaac Newton. Available at: webapp1.dlib.indiana.edu/newton/mss/norm/ALCH00110 (Accessed 07.10.2019).
Newton, I. (1983) Isaac Newton's Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts. Übers. und hrsg. von William Abendroth. Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts Leipzig: Engelmann.
Newton, I. (1988) Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie. Ausgewählt, übersetzt, eingeleitet und herausgegeben von Ed Dellian. Hamburg: Felix Meiner.
Samuelson, P. A. (1966) The Collected scientific Papers of Paul A. Samuelson. Cambridge, Massachusetts: MIT Press.
Smith, A. (2010) Theorie der ethischen Gefühle. Nach der 6. Auflage von 1790 in der Übersetzung von W. Eckstein. Hamburg: Felix Meiner.
Smith, A. (2018) Der Wohlstand der Nationen : eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. München: dtv.
Voltaire (2017) Stürmischer als das Meer. Briefe aus England. Herausgegeben von Rudolf von Bitter. [1. Auflage] edn. Zürich: Diogenes.
Bildnachweis
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Isaac Newton porträtiert von Godfrey Kneller, London 1702, Bestand der National Portrait Gallery © Wikimedia commons
Manuscript and Transcription von Newton, Isaac. "Keynes MS. 53". The Chymistry of Isaac Newton. Ed. William R. Newman 2006. Retrieved October 17, 2019 from: http://purl.dlib.indiana.edu/iudl/newton/ALCH00042
Isaac Newton, Titelblatt der Erstausgabe seiner Schrift Philosophiae Naturalis Principia Mathematica aus dem Jahr 1687 © Wikimedia commons
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Steckt Gott hinter der Gravitation?
Oder denken wir zu monokausal?
Suzann-Viola Renninger regt in ihrem Beitrag zu "Newtons Truhe" die Frage an, ob eine Beschäftigung mit Newtons Schriften, mit seiner Auffassung vom «Gefüge der Welt», uns helfen kann, zu einem Pluralismus (auch in den Kausalitätskonzepten) zu finden, der dem Flickenteppich des Weltgefüges gerechter wird als die Suche nach der einen, vereinheitlichenden Theorie. Wasd denken Sie in dieser Frage?
Kommentare (2)-
Antworten
Sehr geehrte Frau Renninger, leider argumentieren Sie von einer apriorisch atheistisch-agnostizistischen Position aus, also vorurteilsbehaftet und daher nicht objektiv. Leider auch orientieren Sie sich an dem, was sie über Newton in den Schulen gelernt haben; und das ist freilich mangelhaft bis unsinnig. Entscheidend für ein objektives Newton-Verständnis ist, Newton selbst zu lesen, und dann anzuerkennen, dass es sich hier um eine Philosophie handelt, die ausschließlich auf der Grundlage der natürlichen Erfahrung operiert und argumentiert. Newton nennt sie "experimentelle Philosophie". Was die "Gottes-Frage" angeht, so handelt es sich auch hier bei Newton ausschließlich um Erkenntnis, nicht um "Glauben" - und zwar um Erkenntnis "a posteriori": Ebenso, wie schon Paulus in Ersten Römerbrief darauf hinweist, dass die Erkenntnis der Existenz Gottes aus der Erkenntnis seiner Werke folgt, die jedermann vor Augen hat (Röm I, 19 ff.), so zeigt Newton, dass die Erkenntnis der Existenz eines Schöpfergottes auf der Grundlage natürlicher Erfahrung (also hypothesenfrei!) eine "unabweisbare Tatsache" ist! Allerdings ist dieser Gott nicht der "dreieinige Gott", den sich die Christenheit erst im 4. Jahrhundert nach Christus (!) zurecht gelegt hat. Und das ist ein entscheidender Punkt, der für Newtons natürliche Gotteserkenntnis spricht!
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Sehr geehrte Frau Renninger,
Ed Dellian
am 30.01.2020Mit freundlichen Grüßen, Ed Dellian, Bogenstr. 5, 14169 Berlin, Tel./Fax 030/84714564.
Arnulf Wilhelm
am 24.02.2020ich erlaube mir nicht an Sie aufgrund einer kurzen Publikation einzuordnen und möchte mich zuvorderst für sinnstiftende Anregungen bedanken.
Selbstverständlich ist jedwede Meinung, auch wissenschaftlicher Natur, gerade das konnten Sie sogar im allgemeineren Falle der newtonschen Wissenschaft zeigen, festgelegt oder begrenzt (im Wesentlichen durch die Selbstbeschränktheit des Akteurs). Dass sich diese Grenzen verschieben ließen ist dadurch nicht automatisch festgelegt, bedarf aber einer ständigen Neueinordnung des Erfahrenen und des Erfahrenden selbst. Ebendiese Entwicklungsmöglichkeit wird sich aber de facto in der heutigen Wissenschaft genommen, mag es Newtons Absicht gewesen sein oder nicht. Entscheidend ist also heute ein Verständnis für das Vermächtnis Newtons, auf Basis der weitern gewonnen Erkenntnisse, notfalls auch zulasten seines damaligen Wissensstandes, zu gewinnen. Jedoch ist "a posteriori" nach dieser Erkenntnis klar, dass uns Menschen bisher nicht die abschließende Beurteilung über ein „ob“ oder „in welcher Form“ eine ordnende Kraft vorhanden ist obliegt.
Mit freundlichen Grüßen
Arnulf Wilhelm