Eine ganz kurze Geschichte der Medizin
Leitartikel von Ernst Peter Fischer
Die Medizin braucht als Wissenschaft wie jede andere Disziplin ein Objekt, und das kann nicht die Gesundheit sein, über deren Verborgenheit sich Philosophen wie Hans Georg Gadamer Gedanken gemacht haben. Gesundheit ist das Schweigen der Organe, aber der medizinische Forscher muss etwas hören, um seinen Patienten zu verstehen, und so erforschen er und seine Kollegen eine Krankheit oder viele Krankheiten. Ärzte wie der legendäre Hippokrates von Os haben sich spätestens seit den Tagen der Antike um das Aufspüren ihrer Ursachen bemüht, wobei diese Sicht die Fähigkeiten von Heilern und Schamanen welcher Art auch immer aus den uralten Zivilisationen unbeachtet lässt, und zwar trotz unübersehbarer praktischer Erfolge der vorzeitlichen Heilkunst.
In einer sehr kurzen Geschichte der Medizin, die sich am wissenschaftlichen Denken der Neuzeit orientiert, braucht auch nur kurz auf die Ansichten des wahrscheinlich bekanntesten Arztes aus der Antike eingegangen werden, nämlich auf die Vorstellungen des Galenos von Pergamon, der die Ansicht vertrat, die Historiker als Säftelehre kennen und gerne mit dem tiefsinniger klingenden Ausdruck eines Humoralparadigma bezeichnen. Galen meinte und lehrte, dass Krankheiten durch eine schlechte – aus dem Gleichgewicht geratene – Mischung von den vier Kardinalsäften zu erklären waren, die er als Blut, Schleim und gelbe und schwarze Galle identifizierte. Für die Therapie bedeutete diese Einstellung, dass zur Heilung eines Kranken abführende Maßnahmen wie Aderlass, Schröpfen und Erbrechen nötig waren oder auch das Gegenteil geraten sein konnte, womit ein höchst unangenehmer Einlauf gemeint ist, der mit Klistieren vorgenommen wurde und für die Balance der Körpersäfte sorgen sollte. Neben dem Gleichgewicht von eigenen Flüssigkeiten schienen Krankheiten auch durch giftige Tröpfchen von außen bedingt zu sein, und für sie kam das aus dem Griechischen stammende Wort „Virus“ auf, das bis zum 20. Jahrhundert gebraucht hat, um seinen fluiden Charakter loszuwerden und die Partikel oder Körperchen zu erfassen, die man heute damit meint und die derzeit (Frühjahr 2020) in Form der Corona Viren und der von ihnen ausgelösten Pandemie die Öffentlichkeit in Atem halten. Unter Viren verstand die Medizin anfänglich Krankheitsursachen, die durch keinen Filter aufgehalten werden konnten und deshalb als eine Flüssigkeit wie Wasser angesehen wurden.
Galens Idee von Säften als Auslöser von Krankheiten hielt sich durch byzantinische und mittelalterliche Zeiten hindurch, bis sich im 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Sicht grundsätzlich änderte und die Chemie sich dahingehend wandelte, dass sie anfing von Molekülen und Atomen zu sprechen, die sich verbinden konnten. Sie schrieb damit die Idee des Partikulären auf ihre Fahnen und ermutigte die Medizin, in die gleiche Richtung in größeren Einheiten zu denken. In dieser Zeit hatten allerdings erste Ärzte diesen Gedanken bereits gefasst, ohne ihn als umfassendes Prinzip zu verkünden.
Das "Solidarparadigma"
Die Ablösung vom humoralen und die Hinwendung zum partikulären Denken beginnt im 18. Jahrhundert, genauer in dem Jahr 1763, in dem der italienische Arzt Giovanni Battista Morgagni sein fünfbändiges Werk „Über den Sitz und die Ursachen von Krankheiten, aufgespürt durch die Anatomie“ vorlegt. Der in Padua tätige Gelehrte bezweifelt und überwindet die aus der Antike stammende Idee einer Humoralpathologie. Morgagni setzt dem alten Konzept mit Flüssigkeiten die Ergebnisse seiner empirischen Untersuchungen entgegen, die er postmortal durchgeführt hat und die ihm zeigen, dass Krankheiten offensichtlich mit anatomischen Veränderungen an festen und fassbaren Organen einhergehen. Der Paduaner trägt damit zum Entstehen der Konzeption bei, die bald als Solidarparadigma einen neuen Blick auf körperliche Störungen erlaubt und nach den verantwortlichen Solida, nach den methodisch auszumachenden – partikulären – Stellen in einem Kranken sucht, auf die sich die Schmerzen oder Leiden zurückführen lassen, die einen Patienten plagen. Aus der Humoralpathologie wird eine Solidarpathologie, die nach Störungen von festen Bestandteilen und Strukturen eines Körpers Ausschau hält, um das zu erklären, was von Gesunden vornehm als Krankheitsgeschehen bezeichnet wird, und dieses Denken hat sich bis in die Gegenwart gehalten.
Im biologischen Hintergrund solcher grundlegender medizinischer Neuerungen trifft der Beobachter auf die Bemühungen von Botanikern und Zoologen, mit Hilfe von ständig verbesserten Mikroskopen den Aufbau des Organischen zu erfassen, wobei bereits seit dem späten 17. Jahrhundert der Name einer „Zelle“ zirkuliert, den man immer besser auf die Strukturen von Geweben anwenden kann, die sich bei zunehmender Vergrößerung unter einem Mikroskop zeigen. Ein Blick auf die historische Entwicklung der Biologie des frühen 19. Jahrhunderts zeigt, dass sich die Zunft der Botaniker und Zoologen auf dem Weg zur Zellenlehre befand, wobei ein wichtiger Schritt auf diesem Weg in der ersten Beschreibung von noch kleineren Partikeln bestand, die bald als Zellkern bezeichnet wurden. Als erster darüber berichtet hat der schottische Botaniker Robert Brown, mit dessen Einsichten die partikuläre Deutung von Krankheiten, die Pathologie, eine neue Dimension oder Qualität bekommt.
Der „Kern der Zelle“ bekam seine eigentliche Bedeutung durch den deutschen Botaniker Matthias Jacob Schleiden, der auf der Suche nach einem einheitlichen Bildungsprinzip von Zellen war und dem der Zellkern dabei zu Hilfe kam. Schleiden rückte ihn in das Zentrum des biologischen Geschehens und erklärte unter allgemeiner Zustimmung, dass jede „etwas höher gebildete Pflanze ein Aggregat von völlig individualisierten, in sich abgeschlossenen Einzelwesen, [nämlich] den Zellen ist“. Mit anderen Worten, alle strukturellen Elemente des Lebens gehen aus Zellen hervor, und da sich bald die Überzeugung ausbreitete – vorangetrieben unter anderem durch den Zoologen Theodor Schwann –, dass alle Organismen aus Zellen bestehen, konnte der legendäre Pathologe Rudolf Virchow 1855 als Leitsatz für das Leben konstatieren, „omnis cellula e cellula“ – jede Zelle entsteht aus einer Zelle.
1855 markiert auch das Jahr, in dem Virchow sein berühmtes Werk mit dem Titel „Cellularpathologie“ vorlegt, in dem er die kausalen Solida seiner Wissenschaft erheblich und erfolgreich verkleinert. Nun sind es nicht mehr Organe, die Krankheiten auslösen und bewirken. Nun sind es die Zellen, aus denen die Organe gebildet werden und bestehen, die zu Störungen im Lebensablauf führen und Gebrechen der Körper zur Folge haben können.
Entstehung von Bakteriologie und Genetik
Die Idee bleibt in der folgenden Zeit gleich und unverändert, während die partikulären – teilchenartigen – Krankheitsursachen selbst immer kleiner werden, und dieser Trend setzt sich in den folgenden Jahrzehnten fort, in denen um 1880 herum eine Wissenschaft namens Bakteriologie entsteht, deren Objekte – die Bakterien – ihren Namen nach dem griechischen Wort „bakterion“ bekommen haben, das „Stäbchen“ heißt und beschreibt, was man im Lichtmikroskop sehen kann, wenn man nach Objekten sucht, die noch kleiner als die Zellen sind. Insgesamt öffnen die mit immer besseren Auflösungsvermögen ausgestatteten Mikroskope den Blick auf eine wimmelnde Welt von Mikroorganismen, wie man bald sagt. Zu ihnen gehören die Bakterien ebenso wie einige Pilze und Algen, und im 20. Jahrhundert gesellen sich noch viel kleinere Partikel dazu, die auch von feinsten Poren in keinem Filter aufgefangen werden können. Die Rede ist von Viren, die inzwischen auch nicht als etwas Flüssiges, sondern als raffiniert gebaute Teilchen erkannt werden konnten, was in das Muster von partikulären Erklärungen für Gesundheitsstörungen passt, die im Laufe der Geschichte kleiner und kleiner werden. Das 20. Jahrhundert, das auch als „Das Jahrhundert des Gens“ beschrieben worden ist, dringt schließlich – wenn man so will – zur kleinsten möglichen funktionellen Ebene der Pathologie vor, indem sie Gene oder Mutationen von ihnen als Ursachen von Krankheiten ausmacht, was zwar in das Denken vieler Menschen Eingang gefunden hat und den allzu leicht ausgeplauderten Satz produziert, Krebs ist eine genetische Krankheit, was aber allein deshalb problematisch bleibt, weil ein evolutionäres Verstehen des Lebens den dazugehörenden Genen nur Überlebensqualitäten und Durchsetzungsvermögen zuschreiben kann, und Krankheiten gehören wohl kaum zu diesem Arsenal. Zwar suchen viele Biomediziner nach Genen für Krankheiten, aber es muss mehr Gene für die Gesundheit geben, auch wenn dieser höchst erwünschte Zustand sich dem objektiven Zugriff entzieht und nicht als ein Gegenstand im Körper zu fassen ist.
Übrigens: Wer die Rolle von Genen bei dem Auftreten einer Körperstörung verstehen will, muss eine Unterscheidung ganz genau beachten. Die Experten trennen die proximate von der ultimaten Wirkung eines Gens oder überhaupt proximate und ultimate Ursachen, wie man zum Beispiel an der Gicht erläutern kann. Bei Gicht enthält der Körper zu viel Harnsäure, die sich in den Gelenken ablagern und dort zu Schmerzen führen kann. Das ist der proximate Grund. Die Frage eines evolutionär denkenden Mediziners lautet, warum ein Körper so viel Harnsäure produziert, und die Antwort lautet, weil er sich in den frühen Tagen des Werdens nur so vor Radikalen schützen konnte, die er mit der Nahrung aufnahm – wobei diese Radikalen nicht politisch, sondern biochemisch gemeint sind. Hier steckt der ultimate Grund für die Gicht, womit erneut klar werden sollte, wie wenig hilfreich es ist, etwas von Krankheitsgenen zu murmeln, wenn man die Gesundheit verstehen will. Ein Weltbild sollte nicht zu kompliziert sein, aber Schlichtheit allein stellt auch keine Lösung dar.
Wer die Geschichte der Bakteriologie oder Mikrobiologie vor der Dominanz der Genetik erzählen will, kommt rasch und zuverlässig auf zwei Forscher zu sprechen, die mehr gegeneinander als miteinander gearbeitet haben und deren gemeinsames Bemühen um das Verständnis von Mikroorganismen als „Duell zweier Giganten“ beschrieben worden ist. Gemeint sind der ursprünglich als Chemiker tätige Franzose Louis Pasteur und der zunächst als Landarzt ausgebildete deutsche Bakteriologe Robert Koch. Er wurde 1905 mit dem Nobelpreis für Medizin für seine Arbeiten über die Tuberkulose ausgezeichnet, eine Ehre, die Pasteur nicht zuteilwerden konnte, weil er in dem Jahre 1895 gestorben ist, in dem der Stifter Alfred Nobel noch damit beschäftigt war, sein Testament zu verfassen.
Übrigens – dass jemand am Ende des 19. Jahrhunderts auf die Idee kommt, einen hoch dotierten Preis für die Naturwissenschaften – und auch für den Frieden und die Literatur – einzurichten, hat auch mit dem Bild zu tun, dass man sich damals von Physik, Chemie und der Physiologie machte, nämlich zu solchen Fortschritten zu führen, die sich im Leben der Menschen direkt auswirken und die Bedingungen ihrer Existenz so verbessern, dass sich ein friedliches Miteinander aller Völker und Nationen entfalten kann. Am Beginn des 20. Jahrhunderts schwärmten die Menschen von herrlichen Zeiten, wie sich etwa in der „Frankfurter Zeitung“ vom 1. Januar 1900 nachlesen lässt, wenn es heißt:
„Die Erkenntnis hat eine Stufe erreicht und die Nutzbarkeit der Naturkräfte ist zu einem Grad gediehen, wie nie zuvor. Wir haben bedeutungsvolle Schritte getan dem Ziele der Menschheit entgegen. Dieses Ziel heißt: Beherrschung der Natur und Herstellung des Reiches der Gerechtigkeit.“
Zu den wohltätigsten Erfindungen oder Entdeckungen zählten neben der Elektrizität und der Dampfkraft die Schutzimpfung und die Serumtherapie, mit denen der Weg zurück zu den beiden Giganten gelingt, die im 19. Jahrhundert ihre Spuren hinterlassen. Robert Koch zeigt seine Qualitäten vor allem als Entdecker von Krankheitserregern, wobei es ihm 1882 gelingt, die Bakterien ausfindig sichtbar zu machen, die Tuberkulose auslösen. Koch hatte zuvor schon den Erreger des Milzbrandes in den mikroskopischen Blick bekommen, und er wird noch das Bakterium identifizieren, das Cholera auslöst, wobei all diesen Triumphen die eigentliche Krönung versagt bleibt, nämlich ein Medikament zu finden, das sich gegen diese Infektionskrankheiten einsetzen lässt. An dieser Stelle ist der Hinweis zu geben, dass solch ein Begriff – ansteckende Krankheit oder Infektion – nicht vom Himmel fällt, sondern die Ergebnisse auf den medizinischen Punkt bringt, die Mikrobiologen wie Koch über die Jahrzehnte gesammelt und zu einem neuen Bild von Krankheit zusammengestellt haben. Diese von Erfolg zu Erfolg eilende mikrobielle Sicht auf Störungen der Gesundheit hat zwei weitreichende Folgen, die hier angesprochen werden sollen. Die erste betrifft die Suche nach Heilmitteln, die jetzt dadurch fokussiert werden konnte, in dem man sich vornahm, auf die Krankheitserreger chemisch zu zielen, wie Paul Ehrlich einmal formuliert hat, als er als Arzt an der Charité tätig war. Er träumte von entsprechenden „Zauberkugeln“, die im Laufe der Medizingeschichte vor allem in Form von Antibiotika entwickelt wurden, die sich also wörtlich „gegen Lebendiges“ richteten und es abtöten konnten, wenn es dabei anderes (höheres) Leben gefährdete, das es zu retten galt.
Die zweite Konsequenz aus den Erfolgen der Mikrobiologen zeigt sich eher in eine umgekehrte Richtung, nämlich dadurch, dass es jetzt nicht unbedingt besser mit der Gesundheit ging, sondern das dazugehörige Geschäft vielleicht sogar mühsamer wurde. Vor dem 19. Jahrhundert und vor den Entdeckungen der Bakteriologen gab es so etwas wie eine gesundheitliche Eigenverantwortung, der man durch mäßigende Lebensweise, kluge Ernährung und ausreichend Schlaf gerecht wurde, um nur einige Beispiele zu nennen, die der Hausgebrauch und der Hausverstand entwickelt hatten. Mit den Entdeckungen der Bakteriologen verwandelte sich Gesundheit in eine messbare Größe, und die Heilung wurde zu einem eher technischen Vorgang, den man nicht mehr selbst erarbeiten musste, den man dafür aber bei anderen kaufen konnte und bezahlen musste, wobei inzwischen die Kostenfrage in der Medizin ihre eigene Dimension erklettert hat.
Der Siegeszug der modernen Medizin
Die moderne Medizin, so wie sie heute praktiziert wird, beginnt ihren Siegeszug im 19. Jahrhundert, in dem sich die Geburt der heute vertrauten Krankenanstalten vollzieht und etwa in Paris und Wien klinische Schulen entstehen, deren Leistungsfähigkeit durch die gleichzeitig gelingende Überwindung überkommener naturphilosophischer Strömungen in der Physiologie mit der anschließenden Hinwendung zu naturwissenschaftlichen Methoden gestärkt wird. Zu den Pionieren dieser Richtung gehört der in Berlin tätige Johannes Müller, um den sich ein Schülerkreis bildet, dem die bedeutendsten Physiologen des 19. Jahrhunderts angehören. Die Rede ist unter anderem von Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond, die eine Wissenschaft der Sinne aufbauen, die Blut- und Lymphchemie auf ihren Weg bringen, eine vergleichende Embryologie ermöglichen und über den Urogenitaltrakt ebenso nachdenken wie über die Innervation der Organe und die Anatomie der exokrinen Drüsen.
Nicht nur nebenbei entsteht unter Federführung des bayerischen Arztes Max von Pettenkofer eine wissenschaftliche Hygiene, und die Chirurgie bekommt ihre neue Qualität zum einen durch die Einführung von Desinfektionsmitteln wie Karbolsäure, die für die Keimfreiheit von Instrumenten und den Händen führen, die sie einsetzten, und zum anderen durch die extrem segensreiche Entwicklung der Anästhesie, die erst durch eine Lachgasnarkose und dann durch die Gabe von Chloroform gelingt. Mit diesen Vorgaben stehen den Chirurgen neue Möglichkeiten der Operation offen, die Theodor Billroth zum Beispiel nutzt, um sich dem Magen zuzuwenden und erste Teilresektionen durchzuführen.
Im 19. Jahrhundert teilen sich die alten Gebiete der Medizin auf, um Spezialdisziplinen wie die Augenheilkunde (Ophthalmologie), die Orthopädie und die Pädiatrie zu werden. Und während dies geschieht, gelingt es mutigen Ärzten, die Geisteskranken von ihren Ketten zu befreien und ihre Gehirnstörung zu untersuchen, was schließlich als klinische Psychiatrie betroffenen Menschen erfolgreich helfen kann.
Spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bilden die naturwissenschaftlichen Methoden der Physiologie, der klinischen Chemie und der differenzierten physikalischen Diagnostik das Fundament der kommenden Medizin, in deren Verlauf sich auch das Krankenhaus wandelt. Am Ende des 19. Jahrhunderts haben sich klinische Laboratorien ihren festen Platz in einer Krankenanstalt erobert, in denen Reagenzgläser und Brutschränke auf ihren Einsatz warten. Es muss noch erwähnt werden, dass sich die Veränderung der Bevölkerungsstruktur in einer deutlich erhöhten Zahl von Hospitälern niederschlägt und große städtische Krankenhäuser entstehen lässt, die zum Aushängeschild für eine fortschrittlich orientierte Stadt werden.
Natürlich kosten solche Entwicklungen und die zunehmende Behandlungsmöglichkeiten Geld, weshalb sozialmedizinische Überlegungen aufkommen und im Deutschen Reich unter Kanzler Bismarck eine Sozialgesetzgebung eingerichtet wird, zu der eine Krankenversicherung ebenso gehört wie eine Alters- und Invalidenversicherung.
Medizin im 20. Jahrhundert
Es wird Zeit, in das 20. Jahrhundert zu kommen, in dem die Medizin ihren naturwissenschaftlichen Habitus verstärkt, weil ihr neue physikalische Diagnosemethoden wie etwa die Röntgenstrahlen zur Verfügung stehen und weil es in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gelingt, wirksame Wege zu einer Chemotherapie aufzuspüren. Das Terrain des therapeutischen Handelns erweitert sich ungemein, als zunächst in den 1920er Jahren erste antimikrobielle Sulfonamide vorgestellt und dann bis zu den Jahren das Zweiten Weltkriegs mit dem Penicillin das bis heute berühmteste Antibiotikum auf den Markt kommt, was in den 1950er Jahren die Hoffnung aufkommen lässt, die bis dahin bekannten Infektionskrankheiten wie die Syphilis und die Tuberkulose beherrschen zu können.
Weniger erfolgreich als die antibakterielle Chemotherapie zeigt sich die Virologie, die aber einen unvergessenen Triumph feiern kann, als Jonas Salk und Albert Sabin einen Impfstoff gegen die Kinderlähmung herstellen konnten, dessen Erprobung an Menschen in Form einer Schluckimpfung nach Testreihen an Affen im Jahre 1955 beginnen konnte. 1962 wurden die Oralvakzine von der amerikanischen Gesundheitsbehörde frei gegeben, und in der Folge führten großangelegte Impfkampagnen zum Verschwinden der Poliomyelitis erst in den USA und dann in vielen anderen Ländern der Welt.
Zur Geschichte der Medizin gehört eigentlich eine parallele Geschichte der Pharmaindustrie, die über Unternehmen wie die Bayer AG, Schering, Roche und viele andere berichten müsste, von denen einige als Apotheken begonnen haben, deren Besitzer etwas gegen die hohe Sterblichkeit der Kinder unternehmen wollten. Ihr Beitrag zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung verdiente auch den Platz, der hier nicht zur Verfügung steht. Auf all diese großartigen historischen Beiträge wird nur hingewiesen, um individuelle Glanzleistungen etwa der Chirurgie erwähnen zu können, zu denen Ferdinand Sauerbruch beigetragen hat, der den großen und als unantastbar angesehenen menschlichen Thoraxraum operativen Eingriffen zugänglich machte und darüber hinaus der Armprothetik den Weg wies, als er den Sauerbrucharm einführte, der durch Ausnützung der am Amputationsstumpf verbliebenen Muskeln die mechanische Prothese willkürlich beweglich machen konnte. Zu meiner persönlichen Lebenserfahrung gehört das Lesen von Schlagzeilen in den Zeitungen, die im Dezember 1967 verkündeten, dass ein bis dahin unbekannter Chirurg in Südafrika, Christian Barnard, zum ersten Mal in einer Operation ein Herz transplantiert hatte, wobei mit diesem Coup erst der Beginn der ärztlichen Arbeit gelungen war. Sie konzentrierte sich in der Folgezeit auf eine Verhinderung der körperlichen Abstoßungsreaktion zur Abwehr des übertragenen Organs. Es gelang den Medizinern in Kooperation mit Pharmaforschern tatsächlich in kurzer Zeit, ein Immunsuppressivum mit dem Namen Cyclosporin A verfügbar zu haben, dessen Einsatz endgültig half, das Leben von Menschen zu retten, deren Herz nicht mehr so schlagen wollte, wie es ein gesundes Dasein verlangt.
Abschließend ein Wort über die von vielen als schlimmsten Feind ihrer Gesundheit gefürchteten Krebskrankheit, die bei Männern als häufigste Todesursache zu vermelden ist und in verschiedenen gefährlichen Formen auftreten kann. Die Zunft der Wissenschaftler wollte dieser Geisel der Menschheit in ihrem ersten Versuch einer Großforschung auf die Schliche kommen. Gemeint ist das Humane Genom Projekt, das viele Milliarden Dollar gekostet hat und 1985 mit der Hoffnung gestartet wurde, dass man dann, wenn Krebs eine genetische Krankheit ist, dieses Leiden verstehen müsste, wenn man alle Gene eines Menschen kennt. Das Genomprojekt gilt seit 2003 als abgeschlossen, aber die Zahl der Krebserkrankungen nimmt weiter zu. Krebs scheint zum Leben zu gehören und in den Zellen selbst zu stecken. Es ist klar, dass sich einzelne Zellen ihrem evolutionären Ursprung zufolge teilen wollen, dies aber in einem erwachsenen Körper nicht mehr dürfen. Nun sitzen sie da eingesperrt und warten auf ihre Chance zu Befreiung. Sie wird kommen, wenn ein Mensch alt genug geworden ist.
Ernst Peter Fischer
Publiziert im April 2020
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