Von Gott und Empathie: Wie Nächstenliebe mit Hilfe der Evolution entstand
Leitartikel von Corinna Klodt
Was hat die Evolution des Menschen mit der biblisch gebotenen Nächstenliebe zu tun? In der interdisziplinären Forschung im Bereich „Theologie und Naturwissenschaften“ wird diese Frage kontrovers diskutiert. Ist Nächstenliebe unabhängig von jeder Evolution, oder kann die Evolution auch bei der Entwicklung von Nächstenliebe eine Rolle gespielt haben?
Manche Autoren vertreten die These, dass beide Bereiche – richtig verstanden – keine Schnittmenge teilten: Die Evolutionstheorie beschreibe in einem naturwissenschaftlichen Sinne die Entstehung des Menschen und beziehe sich dabei auf Beobachtungen. Sie stelle falsifizierbare Thesen auf über das, was war oder ist. Religion und Nächstenliebe hingegen fragten danach, wie sich der Mensch verhalten soll, sie beziehen sich also auf die normative Frage nach der Ethik (vgl. Gould 1997: 106).
Auf den ersten Blick scheinen die Themen Evolution und Nächstenliebe tatsächlich in einem Verhältnis der Unabhängigkeit zueinander zu stehen. Die Evolution ist der 3,5 Milliarden Jahre währende Prozess vom ersten Einzeller bis hin zur Entwicklung des Menschen. Dieser Prozess verläuft nach dem immer gleichen Prinzip 1. der Variation des Lebens, 2. der natürlichen Selektion, d.h. der Auswahl von Lebewesen, die im Vergleich mit anderen Mitgliedern ihrer Population besser oder schlechter an die Erfordernisse einer gegebenen Umwelt angepasst sind und 3. der Tradierung von Genen durch Reproduktion. Diese Gesetzmäßigkeiten sind – grob vereinfacht – die Wirkprinzipien der biologischen Evolution, sie sorgen für die Entstehung, die Veränderung und die Vielfalt der Arten.
Hingegen ist Nächstenliebe – im engeren Sinn – eine biblische Verhaltensregel, die in ihrer klassischen Form erstmals in Lev 19,18 auftaucht: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Im Neuen Testament wird die Nächstenliebe neben der Gottesliebe als höchstes Gebot genannt (vgl. Mk 12,29-31). Im Anschluss an den Neutestamentler Gerd Theißen lässt sich Nächstenliebe ferner als tätige Hilfe gegenüber einer oder mehrerer andere Personen verstehen. Sie erstreckt sich dabei auch auf den persönlichen oder politischen Feind, den Fremden und den Bedürftigen (vgl. Theißen 2011: 27). Sie kann auf Gegenseitigkeit beruhen (eine geleistete Hilfe wird erwidert) oder sie kann einseitig bleiben – wie in der Geschichte vom barmherzigen Samariter, der keine Kompensation für die von ihm geleistete Hilfe erfährt (vgl. Lk 10,25-37). In diesem Sinn hat Nächstenliebe eine universale Ausrichtung – sie soll von jedem und jeder und für jede/n getan werden. Der Nächstenliebe vergleichbare Verhaltensregeln gibt es auch in anderen Religionen, Philosophien und Weltanschauungen (vgl. Bellah 2011: 324-566).
Entwicklungsgeschichtliche Vorformen von universeller Nächstenliebe sind punktuell prosoziale Verhaltensweisen wie zum Beispiel die Fürsorge für eine andere Person. Dazu können Familienmitglieder, Gruppenmitglieder oder andere Menschen außerhalb der eigenen Familie oder Gruppe zählen. Ein solches prosoziales Verhalten lässt sich beim Menschen zu allen Zeiten finden – auch schon in frühen Stammesgesellschaften –, wenngleich hier ein Ethos universaler Nächstenliebe nicht systematisch ausgearbeitet ist. Universale Nächstenliebe wird hier (noch) nicht gefordert und als Forderung auch nicht systematisch ausgearbeitet.
Mit dieser Beobachtung ist bereits ein erster Berührungspunkt zwischen Evolution und Nächstenliebe ausgemacht. Der Mensch ist nämlich ein Produkt der Evolution; durch sie ist er geworden, was er heute ist. Insofern lässt sich fragen, wie die Evolution zur Entstehung von Menschen geführt hat, die ein Ethos der Nächstenliebe ausbilden. Würze erhält diese Fragestellung durch die Überlegung, dass die Evolution – ihrer Wirkungsweise nach – Lebewesen hervorbringt, die erfolgreich ihre eigenen Gene weitergeben. Prosoziale Verhaltensweisen stärken aber zunächst das Überleben anderer – und damit die Chance, dass andere – nicht man selbst – ihre Gene weitergeben. Dies brachte schon den Vater der Evolutionstheorie, Charles Darwin, zu folgender Überlegung. „Man kann fragen, wie […] eine große Anzahl an Stammesmitgliedern überhaupt erstmals mit solchen prosozialen und moralischen Fähigkeiten begabt wurde?” (Darwin 1981: 163). Der Frage, wie im Rahmen menschlicher Evolution prosoziales Verhalten und schließlich sogar ein Ethos universaler Nächstenliebe entstehen konnte, wird daher im Folgenden nachgegangen.
1. Verhaltensweisen von Primaten in der Evolution: von Gewalt bis Empathie
Dass das heutige Verhalten des Menschen von der Evolution (mit)geprägt ist, wird von Evolutionsbiologen methodisch vorausgesetzt. So formuliert der Evolutionsbiologe Richard Dawkins: „Die natürliche Selektion hat uns geschaffen, und man muß sie verstehen, um unsere eigene Identität verstehen zu können.“ (Dawkins 1978: 27). Als Produkt der Evolution verfügt der Mensch daher über Verhaltensweisen, die ihn im Laufe der Evolution haben überleben und sich fortpflanzen lassen.
Am Beispiel von Überlegungen zum Verhalten von nichtmenschlichen Primaten sollen im Folgenden Verhaltensweisen genannt werden, die höchstwahrscheinlich auch bei der Evolution des Menschen erfolgreich waren und zu seinem Überleben beigetragen haben.
Bei Primaten hat sich das Streben nach Dominanz innerhalb der Gruppe als vorteilhaft herausgestellt, weil der Dominante einen besseren Zugang zu Nahrung und Fortpflanzungspartnern hat als die übrigen Mitglieder der Gruppe. Es lässt sich beobachten, wie Schimpansen um die Vorherrschaft in ihrer Gruppe kämpfen. Das dominante Männchen ist dann in der Regel das erste, das frisst. Auch Aggression nach außen gegenüber Konkurrenten um Nahrung und Fortpflanzungspartner ist bei Primaten weit verbreitet. Insbesondere männliche „Gruppenchefs“ verwenden viel Kraft und Energie darauf, Konkurrenten auszustechen. Sollte der Konkurrent nicht klein beigeben, wird mit Gewalt ausgefochten, wer der Stärkere ist. Richard Dawkins schreibt – diese Verhaltensweisen betonend – von der Evolution als „Zähne und Klauen, blutigrot“ (Dawkins 1978: 2).
Doch sind Aggression und Dominanzstreben nicht die einzigen evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen bei Primaten. So geht beispielsweise bei Schimpansen mit der Führungsposition in einer Gruppe häufig auch eine Fürsorge für die anderen Gruppenmitglieder einher – die ´Chefs´ schlichten zum Beispiel Streit innerhalb der Gruppe und sorgen häufig dafür, dass auch rangniedrige Gruppenmitglieder an Nahrung herankommen. Dies ist kein Widerspruch zum Streben nach einem hohen Status innerhalb der Gruppe: Denn wenn das ranghohe Männchen die Gruppenmitglieder mit niedrigem Status schlecht behandelt, kommt es vor, dass diese sich zu einem Aufstand zusammenschließen und den Oberen angreifen. ‚Schlechte‘ Chefs bleiben nicht lange an der Spitze.
Ein weiteres, prosoziales Verhalten, das im Laufe der Evolution erfolgreich war, ist die Empathie. Der Verhaltensbiologe Frans de Waal verortet die Entstehung von Empathie in der Aufzucht von Säuglingen. Es sei evolutionär erfolgreich gewesen, wenn sich Mütter in die Bedürfnisse ihrer neugeborenen, noch hilflosen Säuglinge einfühlen konnten. Dadurch konnten sie ihre Nachkommen besser versorgen und die Weitergabe ihrer Gene sichern. Empathie – das Einfühlen in die Gefühle und Stimmungen anderer, als wären es die eigenen – sei in diesem Sinn vor-rational und entstehe automatisch. Es verbinde mit den Emotionen anderer und ermögliche es, deren Perspektive zu übernehmen. So sei es intuitiv möglich, die Befindlichkeiten anderer zu verstehen. Damit Empathie entsteht, braucht es ferner die direkte, leibliche Begegnung mit anderen (vgl. De Waal 2008: 44-45).
Daneben hat die Evolution auch zur Ausbildung von prosozialen Verhaltensweisen beigetragen, wie Hilfe gegenüber Verwandten oder Hilfe zwischen den Mitgliedern einer Gruppe. Es gibt mehrere Theorien, warum sich diese prosozialen Verhaltensweisen in der Evolution rechneten: Eventuell war es vorteilhaft, anderen Gruppenmitgliedern zu helfen, weil so die Gruppe insgesamt stabil war. Und in einer funktionierenden Gruppe waren wiederum auch die Überlebenschancen des Einzelnen besser, weil der Schutz vor Feinden oder die Suche nach Nahrung in der Gruppe leichter waren als allein.
Eine weitere Theorie lautet, dass es evolutionär vorteilhaft war, engen Verwandten zu helfen, weil diese Kopien der eigenen Gene verbreiteten. Auch Hilfe auf Gegenseitigkeit, bei der die zunächst selbstlose Tat zu einem späteren Zeitpunkt erwidert wurde, bedeutete für den Helfenden auf lange Sicht gesehen zumindest keine Schwächung der eigenen Überlebenschancen. Hilfe, so diagnostiziert der Verhaltensbiologe Frans de Waal, ist also „fest in den natürlichen Neigungen und Sehnsüchten unserer Spezies verankert“ (De Waal 2008: 36).
Eng mit einem prosozialen Verhalten verwandt ist das kooperative Verhalten. Auch das war in der Evolution erfolgreich: Alle Beteiligten arbeiteten zum gegenseitigen Vorteil eng zusammen – zum Beispiel bei der Jagd, weil das die Chancen auf Beute erhöhte. Am Ende der Jagd wurde die Beute geteilt. So hatten alle etwas davon. Ein solches hoch entwickeltes Verhalten setzte absichtsvolles Handeln, Einfühlung in die Absichten von anderen und Verständigung untereinander voraus. Die Evolution selbst hat also Lebewesen mit hoch entwickelten sozialen, kommunikativen und empathischen Verhaltensweisen hervorgebracht.
Zusammenfassend hat die Evolution somit zur Ausprägung von höchst unterschiedlichen Verhaltensweisen beigetragen. Egoistische und altruistische Verhaltensweisen existieren nebeneinander und ineinander verwoben. Diese Vielfalt an Verhaltensweisen beeinflusst den Menschen bis heute. Darum beschreiben manche Evolutionsbiologen den Menschen sogar mit religiösen Begriffen als „Dämon“ und „Engel“ (Pinker 2016: 712.846). Er ist einerseits prosozial, andererseits auch egoistisch und auf sein eigenes Fortkommen bedacht.
Eine offene Frage ist in diesem Zusammenhang die genetische Verankerung der oben genannten Verhaltensweisen beim Menschen. Forscher sprechen hier von einer „genetische[n] Basis“ (Wuketits 2002: 12) menschlichen Verhaltens. Vermutlich stellen die Gene eine Art „Grundausstattung“ (De Waal 2008: 76) dar, ein Repertoire an möglichen Verhaltensweisen. Die tatsächliche Auswahl konkreter Verhaltensweisen aus einer Vielzahl an Möglichkeiten wird aber auch durch Umwelteinflüsse, soziales Lernen und persönliche Überzeugungen bestimmt. Die genaue Verhältnisbestimmung von Genen und Kultur ist in der Forschung umstritten.
2. Verhaltensspielräume und Freiheitsräume in der Evolution
Neue Perspektiven in der Evolutionstheorie betonen weiterhin, dass alle Lebewesen Produkte der Evolution sind. Dies bedeutet aber nicht, dass jede ihrer Verhaltensweisen immer vom Diktat der bestmöglichen Anpassung bestimmt wird. Vielmehr lässt die Evolution einen Spielraum für unterschiedliche Verhaltensweisen zu. Gibt es nur einen geringen Selektionsdruck, können bereits Tiere freigiebiger mit Ressourcen umgehen; nicht jeder Bissen ist umkämpft und Nahrung wird häufig geteilt. Der Religionssoziologe Robert Bellah (2011: 77) spricht in diesem Zusammenhang auch von „relaxed fields“ – entspannten Räumen – in der Evolution. Solche Räume werden durch eine ressourcenreiche Natur selbst gebildet. Daneben gibt es aber auch entspannte Räume, die Tiere in der Fürsorge für andere selbst herstellen. Bellah verweist hier auf Säugetiermütter, die ihre neugeborenen Kinder versorgen. Dadurch können die Tierkinder ihre ersten Lebensmonate geschützt und sorglos verbringen. Auf diese Weise ist der Selektionsdruck für sie für eine gewisse Zeit verringert. Freilich bedeutet das für die Mütter einen umso intensiveren Kampf um Ressourcen, da sie sich selbst und ihre Kinder ernähren müssen.
Ferner darf man sich Primaten nicht als mathematische Computer vorstellen, die bei jeder Handlung überlegen, ob diese sich in evolutionärer Hinsicht für sie rechnet. „Die meisten Tieren planen nicht im Voraus nach dem Motto: ‘Wenn ich heute dies oder jenes für einen anderen tue, wird der sich morgen bei mir für den Gefallen revanchieren.‘ Gerade weil sie nicht vorausschauend planen, handeln die meisten Tiere aus einem spontanen wohlwollenden Impuls heraus“ (De Waal 2013: 48). Es sind also häufig soziale Instinkte statt ökonomischer Kosten-Nutzen-Berechnungen, die das Verhalten von Primaten steuern. Dabei können sich prosoziale Verhaltensweisen – einmal entstanden – von ihrem Entstehungskontext lösen: „Dem Impuls zu helfen war also immer ein gewisser Überlebenswert für die zur Hilfe Bereiten zu eigen. Doch wie so oft wurde der Impuls von den Konsequenzen, die seine Ausbildung begünstigten, losgelöst. Das erlaubte seinen Ausdruck auch dann, wenn eine Rückzahlung unwahrscheinlich war, wenn etwa Fremde die Nutznießer waren“ (De Waal 2008: 34).
In diesem Sinn beschreibt De Waal das Verhalten eines in Freiheit lebenden, erwachsenen Schimpansen. Dieser sei dabei beobachtet worden, wie er ein verwaistes Schimpansenkind aufzog, es mit Nahrung versorgte und vor Fressfeinden schützte. Der erwachsene Schimpanse war nicht mit dem Jungen verwandt. De Waal vermutet daher, dass Empathie der Motor für das Verhalten des Schimpansen war (vgl. De Waal 2013: 33).
Freilich haben solche Beispiele anekdotischen Charakter. Nichtsdestoweniger zeigen sie, dass sich das Verhalten von Lebewesen in der Evolution faktisch nicht immer am Optimum eines evolutionären Kosten-Nutzen-Modells orientiert – und dass die Evolution für diese alternativen Verhaltensweisen einen Spielraum lässt. Ferner zeigen diese Beispiele, dass soziale Instinkte und soziales Miteinander mächtige Triebkräfte in der Evolution sind. Wie aber ist es dem Menschen gelungen, diese Triebkräfte unter anderem durch das Gebot der Nächstenliebe – zumindest theoretisch – auf die ganze Menschheit zu erweitern?
3. Reflexion als besondere Kompetenz des Menschen
Wie alle anderen Primaten verfügt auch der Mensch über die oben genannten Verhaltensweisen. Was den Menschen aber von allen anderen Tieren unterscheidet, ist erstens seine viel weiter ausgebaute Fähigkeit zur Kultur: Das heißt, der Mensch kann Informationen und Verhaltensweisen durch bewusstes Lernen erwerben und durch Lehren zielgenau an andere weitergeben. Dadurch können auch solche Verhaltensweisen an andere weitergegeben werden, die nicht genetisch ‚fixiert‘ sind – wie das Ethos der universalen Nächstenliebe.
Zweitens verfügt nur der Mensch über die Fähigkeit zur abstrakten Reflexion (vgl. Bellah 2011: 275). Das bedeutet, dass der Mensch über sein Verhalten nachdenken kann und Regeln für sein Verhalten aufstellen kann. Ferner kann der Mensch diese Verhaltensregeln auch noch einmal kritisch reflektieren. Diesen Freiheitspielraum hat nur der Mensch. Dabei hören Menschen nicht auf, Situationen auch emotional zu empfinden, instinktiv zu reagieren, Mitleid zu fühlen etc. Nur können diese Emotionen und Instinkte eingebettet werden in stärker reflektierende, abstrakte Denk- und Handlungsvollzüge (vgl. Bellah 2011: 273).
4. Theologische Begründungen der Nächstenliebe
Am Beispiel des Gebots zur Nächstenliebe wird die Stärke der Reflexion gut deutlich. Denn das Gebot der Nächstenliebe wird unter anderem in der abstrakten, reflektierenden Einsicht damit begründet, dass alle Menschen Ebenbilder Gottes sind (vgl. Gen 1,27). Als solche sind sie vor Gott gleich. Von dieser Überzeugung herkommend, haben alle Menschen das gleiche Recht auf Leben (vgl. Gen 9,6). Theologisch gesprochen: Weil Gott allen Menschen „zum Nächsten wird“ (Dalferth 2013, 162), ist es geboten, dass auch alle Menschen untereinander zu Nächsten werden. Erst durch diese theologische Denkfigur kann Hilfe gegenüber Personen, zu denen keine persönlichen Sympathien oder Bindungen bestehen, krisenfest begründet werden. Drei biblische Beispiele sollen hier genannt werden:
Die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter. Hier hilft ein Angehöriger einer fremden Religion und Volksgruppe einem Verletzten am Straßenrand – obwohl keine Verwandtschafts- oder Gruppenbeziehungen zwischen beiden bestehen – und ohne, dass diese Hilfe zu einem späteren Zeitpunkt erwidert wird. Zumindest berichtet die Erzählung nichts davon. Nächstenliebe meint hier also Hilfe gegenüber einer bedürftigen Person, ohne dass der Helfende – unter der Maxime der evolutionären fitness – etwas davon hat. Interessant ist ferner die emotionale Reaktion des Samariters, als er den Verletzten sieht: Es „jammert“ ihn (vgl. Lk 10,33), d.h. er wird von dem Leiden des anderen emotional ergriffen, fühlt das Leiden mit und übernimmt so die Perspektive des anderen. Empathie ist in dieser Geschichte sicherlich ein Auslöser für die Hilfsleistung des Samariters.
Zweitens wird in der Bibel zur Feindesliebe aufgerufen. Dieses Gebot wird im Verhalten Gottes selbst begründet, der die Sonne über „Gerechte und Ungerechte“ aufgehen lässt. Christinnen und Christen sollen dieses Verhalten Gott imitieren: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel“ (Mt 5,45). Wenn Jesus sich dann von den Römern verhaften lässt, statt bei Gott um Engel mit Schwertern zu bitten, gibt er gerade so ein Beispiel für gelebte Feindesliebe (vgl. Mt 26,55).
Drittens wird biblisch Hilfe gegenüber Witwen und Waisen durch den Verweis auf Gott begründet. Weil diese Personengruppen besonders schutzbedürftig waren und häufig kein familiäres oder soziales Netz hatten, verpflichtet sich Gott selbst, diesen Personen zu helfen. Weil nun Gott für diese Menschen eintritt, werden auch Menschen zur Fürsorge für sie verpflichtet, wenn sie nicht Gottes Zorn auf sich ziehen wollen. „Ihr sollt Witwen und Waisen nicht bedrücken. Wirst du sie bedrücken und werden sie zu mir schreien, so werde ich ihr Schreien erhören.“ (Ex 22,21-22).
Die hier skizzierten biblischen Textstellen zeigen, wie sehr der Verweis auf Gott dazu dient, Hilfe gegenüber anderen auch dann zu begründen, wenn ich persönlich ‚nichts davon habe‘, oder wenn empathische und soziale Instinkte gegenüber Hilfsbedürftigen zu gering sind, um zur entsprechenden Hilfe zu motivieren. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn es keine persönlichen Beziehungen zu den Hilfsbedürftigen gibt. Denn Empathie und soziale Instinkte sind auf leibliche Begegnungen angewiesen. So kann der Bezug auf Gott soziale Verhaltensweisen auch dann begründen und motivieren, wenn andernfalls egoistische Verhaltenstendenzen des Menschen die Oberhand gewönnen.
Fazit: Die Verwobenheit von Natur und Kultur bei der Entstehung von Nächstenliebe
Nächstenliebe, verstanden als universelle soziale Hilfe, ist eine anspruchsvolle Maxime. Die Forschungen zur evolutionären Ethik haben gezeigt: So ein anspruchsvolles Verhalten ist nicht ohne Vorläufer in der Evolution. Empathie, Kooperation und Hilfe gegenüber anderen gibt es in Grenzen bereits in der biologischen Evolution. Letztendlich bleiben Natur und Kultur, Evolution und Lernen, Instinkt, Gefühl und abstrakter Gedanke aufeinander angewiesen und aufeinander bezogen, wenn es um das Tun von Nächstenliebe geht. Die sozialen Instinkte garantieren die Neigung und Bereitschaft zur Nächstenliebe, während die theologischen Überzeugungen diese Nächstenliebe krisenfester und universeller begründen und verankern, als es durch Instinkte und Emotionen überhaupt möglich ist.
Evolutionstheorien leisten daher einen wichtigen Beitrag zum Verständnis und zur Verortung der Leistungskraft von Nächstenliebe. Sie können das biblische Ethos der Nächstenliebe einerseits in seiner festen Fundierung in der Natur und andererseits als Produkt kulturellen Lernens und kritischer Reflexion verorten. Nur weil Nächstenliebe soziale Instinkte und prosoziale Verhaltenstendenzen im Menschen selbst anspricht, ist sie überhaupt plausibel für den Menschen. Aber erst theologische bzw. philosophische Überzeugungen können den Radius von prosozialen Verhaltenstendenzen auch grundsätzlich auf die Fernsten ausweiten.
Corinna Klodt
Publiziert im Juni 2023
Dr. Corinna Klodt hat an den Universitäten Mainz, Berlin, Glasgow und Heidelbergevangelische Theologie studiert. Ihre Dissertationsschrift an der Universität Osnabrück verfasste sie zu Gerd Theißens evolutionstheoretischer Deutung des biblischen Glaubens. Die Arbeit mit dem Titel „Jenseits von Eigennutz. Potentiale und Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion“ ist 2021 bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen. Seit 2022 ist Corinna Klodt evangelische Pfarrerin in Heusenstamm.
Literatur
Bellah, Robert (2011): Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age, Cambridge (MA) / London: Harvard University Press.
Dalferth, Ingolf U. (2013): Selbstlose Leidenschaften. Christlicher Glaube und menschliche Passion, Tübingen: Mohr Siebeck.
Darwin, Charles (1981): The Descent of Man and Selection in Relation to Sex, hrsg. von Bonner, John Tyler / May, Robert M., Princeton: Princeton University Press.
Dawkins, Richard (1978): Das egoistische Gen, Berlin / Heidelberg / New York: Springer.
De Waal, Frans (2008): Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte, München: Carl Hanser.
De Waal, Frans (2013): The Bonobo and the Atheist. In Search of Humanism Among the Primates, London / New York: W. W. Norton & Company.
Gould, Stephen Jay (1997): Nonoverlapping Magisteria, in: Natural History, 16-22.
Pinker, Steven (2016): Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, 2. Auflage, Frankfurt am Main: S. Fischer.
Theißen, Gerd (2011): Biblischer Glaube und Evolution. Der antiselektive Indikativ und Imperativ, in: Ders., Von Jesus zur urchristlichen Zeichenwelt. „Neutestamentliche Grenzgänge“ im Dialog, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 188-237.
Wuketits, Franz Manfred (2002): Was ist Soziobiologie?, München: C.H. Beck.
Bildnachweis
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