Der ehrwürdige Drachen altert – Demografie und Digitalisierung in China
Leitartikel von Michael Blume
Auf meinen Artikel über die medialen Potentiale der „digitalen Tyrannophilie“ habe ich mehrfach Nachfragen bekommen, ob ich denn mit einem „Sieg“ des „chinesischen Modells“ über das „Modell liberaler Demokratien“ rechne. Hat geregelte Freiheit einen Mehrwert gegenüber ungeregelter Autorität?
Und die Antwort ist: Nein, ich fürchte das chinesische Gesellschaftsmodell nicht. Denn auch dieses unterliegt einem Bereich der menschlichen Lebensführung, den bislang keine säkulare – auch keine digitalisierte – Weltanschauung gegenüber den Religionen dominieren konnte: Die Demografie.
Auf die Frage der Anthropodizee – die Frage, warum und wie oft wir uns verlässlich binden und menschliches Leben weitergeben sollen – konnten bislang nur Religionen normativ verbindliche Antworten geben, etwa: Gott liebe die Menschen und habe uns daher den Auftrag gegeben, uns zu mehren. Auch das Töten von Mädchen wurde in allen semitischen (alphabetisierten) Religionen seit dem Judentum strikt verboten. Dass der Pharao in 2. Mose die hebräischen Jungs töten, aber die Mädchen für sein Volk einbehalten will, war in der vor-christlichen Antike nicht weiter erklärungsbedürftig. Denn da Frauen in die Familien der Ehemänner wechselten, erschienen sie auch wirtschaftlich gesehen als „verschüttetes Wasser“, wie ein chinesisches Sprichwort besagt.
Entsprechend kennen wir zahlreiche monotheistische Religionsgemeinschaften von den jüdischen Haredim bis zu den christlichen Amish, die über Jahrhunderte hinweg außerordentlich kinderreich geblieben sind. Es ist jedoch bislang keine einzige nichtreligiöse Tradition bekannt, die auch nur ein Jahrhundert lang die sogenannte Bestandserhaltungsgrenze von 2,1 Kindern pro Frau hätte erhalten können. Noch auf jede historisch bekannte Säkularisierung folgte unweigerlich eine schnelle, demografische Implosion. Und auch im Vergleich zu den ebenfalls bereits rapide alternden und demografisch schrumpfenden asiatischen Nationen von Japan und Südkorea hat China den säkularen Geburtenrückgang durch Jahrzehnte der Ein-Kind-Politik und Abschottung sogar noch verschärft. Es fehlen Kinder und regional vor allem Mädchen – das riesige China ergraut bereits rapide.
Längst gibt es wachsende Zweifel, wie zutreffend die statistischen Daten des Landes noch sind – also ob eine bereits eingetretene Bevölkerungsimplosion bereits teil-verschleiert wird. Die massive Krise gleich mehrerer Immobilienkonzerne nach Evergrande deutet ebenfalls darauf hin, dass Leerstände und Wertverluste bereits schnell eskalieren. Obwohl progressive Demokratien eine aktive Familienförderung entwickelt und zugleich Zuwanderung gefördert haben, kennen auch wir das Phänomen der Niedrigzinsen: Wo immer mehr Ältere Sparguthaben ansammeln, aber immer weniger Jüngere Kredite aufnehmen, rutschen die Zinsen schließlich bis in den Negativbereich. Denn auch Geld besteht letztlich nur aus medialen Symbolen, die ihren Tauschwert aus den Tätigkeiten von Menschen schöpfen: Ohne junge Menschen verfallen auch riesige Geldwerte und Immobilien. Und China hat zuletzt die Zuwanderung sogar weiter gedrosselt und fährt gegenüber religiösen Minderheiten etwa des Islams und Christentums eine zunehmend brutale Assimilationsstrategie, unterdrückt auch jede freiheitliche Opposition. All dies beschleunigt wiederum Abwanderungsprozesse (zuletzt auch aus Hongkong) und die demografische Implosion weiter.
Wer die Freiheiten, Rechte und letztlich die Würde von Menschen immer weiter einschränkt, erstickt auch ihren kreativen Willen zur Innovation, zur Zukunft, zum Leben und Leben-Weitergeben.
Noch schneller und massiver als etwa die europäisch-schrumpfenden Nationen Polen und Ungarn rutscht China daher in die demografische Traditionalismusfalle: Mangels junger, innovativer Kräfte erstarken alternde, fast ausschließlich männliche Nationalisten. Die nun auch digital herrschende Kommunistische Partei hat nüchtern empirisch gerade keinen „neuen Menschen“ hervorgebracht, sondern streng abgeschottete Seilschaften älterer Männer.
Entsprechend fällt auch die neuere KP-Politik aus, die Liberalisierungen vergangener Jahrzehnte zurücknimmt: An die Stelle von Religions- und Gewissensfreiheit sowie die Vielfalt ermöglichender Familienförderung treten Überwachungen, Verhaftungen und Einschränkungen gegenüber jüngeren Menschen, konkret zum Beispiel das Schließen praktisch aller nicht-chinesischen Digitalangebote, das Zensieren nicht nur englischer, sondern auch südkoreanisch-„verweiblichter“ Populärkultur sowie staatlich überwachte Videospielsperren. Und während die chinesische Wirtschaft bereits lahmt, werden dennoch junge Arbeitskräfte ins weiter wachsende Militär geholt. Dieses tritt außenpolitisch immer aggressiver auf, während es zugleich immer stärker gegen Klimakatastrophen wie Fluten und berstende Dämme im Inland eingesetzt werden muss. Mittelfristig könnte so auch die zivile Führung des Landes gefährdet sein. Auf das chinesische könnte schlimmstenfalls das „nordkoreanische Modell“ folgen.
Aus den ebenfalls bereits schnell alternden Staaten Russland und Iran wissen wir, dass Nationalismus, Militarismus und Imperialismus trotz demografischer Schrumpfung noch einige Jahrzehnte überdauern können. Deswegen teile ich die Sorge um einen möglichen Übergriff Chinas nach Taiwan, zumal China im Bündnis mit Pakistan und den Taliban bereits den westlichen und indischen Einfluss aus Afghanistan drängen konnte. Im Gegensatz zu den Öl-Rentierstaaten, die noch immer fossile Rohstoffe verkaufen können, muss China jedoch seine Güter samt Energiekosten selbst produzieren und wird also durch die demografische Implosion wirtschaftlich schneller geschwächt.
Denkbar ist schließlich, dass China vergleichbar zum – allerdings gescheiterten – marxistischen Regime in Rumänien versuchen könnte, die Geburtenraten durch staatlichen Druck zu erhöhen. Doch dafür gibt es bislang keine erfolgreichen Beispiele in der Geschichte, auch dürfte es selbst bei denkbaren, digital überwachten Vorgaben demografisch gesehen schon zu spät für eine baldige Trendumkehr sein. Die potentiellen Mütter fehlen bereits jetzt.
Die liberalen und auch gegenüber Religionen freiheitlichen Demokratien haben daher in meiner Wahrnehmung noch nicht gegenüber dem „chinesischen Modell“ ausgedient, wenn sie sowohl eine vielfältige Familienförderung wie auch die Integration von Zuwanderung stärken. Digitalisierung mag die schnellste und am besten zu kontrollierende, mediale Kommunikation der Geschichte ermöglichen. Doch das ändert nichts daran, dass zumindest bisher jede Form der Kommunikation zwischen-menschlich stattfand und also der Macht der Demografie unterworfen bleibt.
China bleibt ehrwürdig, doch es altert immer schneller. Es ist nicht militärisch bedroht, sondern versinkt langsam selbst im grauen Treibsand des autoritären Traditionalismus. Der Drache – das in den chinesischen Traditionen gewachsene Totem- und Wappenwesen – altert derzeit noch eher in Richtung Wut als Weisheit. Die Niederschlagung der Studierendenproteste auf dem Pekinger „Platz des Himmlischen Friedens“ am 4. Juni 1989 war eben auch eine tödliche und folgenreiche Entscheidung gegen den Freiheitswillen der jüngeren Generationen. Sie kann zwar aus dem digitalen Gedächtnis des Landes getilgt werden, nicht aber aus der realen Demografie. Hilfe wird erst dann möglich sein, wenn die chinesische Gesellschaft selbst dies will und gegenüber den alternden Männerzirkeln der KP durchsetzen kann. Danach sieht es derzeit nicht aus.
Liberale und vielfältige Gesellschaften haben zumindest das Potential, lebensfreundlicher, jünger und innovativer zu bleiben. Sie können konstruktiv auch mit Religionsgemeinschaften zusammenwirken, um das Leben zu fördern, Zuwanderung zu regeln und jeder Form von Extremismus und Tyrannei entgegenzutreten. Angesichts des klimatischen Zerfalls insbesondere des eurasischen Gürtels von Nordafrika bis China erscheint auch der Rückzug der Demokratien aus Afghanistan als moralisch fragwürdig, aber militärisch nachvollziehbar. Die Zeit des militärisch gestützten „Nation-Building“ ist angesichts der ökologischen Eskalation vorbei und Hilfe sollte auf jene konzentriert werden, die sich darauf einlassen. Trauen wir dagegen vor allem Pakistan und China zu, mehr Verantwortung entlang der Seidenstraße zu übernehmen, die sie zu Recht gegenüber dem Westen und Indien beansprucht haben.
Durch eine schnellere Energiewende und regionale, nachhaltige Produktionsstätten können liberale Demokratien den globalen Einfluss der alternden Diktaturen wirtschaftlich, politisch und damit eben auch kulturell und ideologisch verringern. Kirchen sind ihrerseits aufgerufen, Freiheiten dadurch zu verteidigen, indem sie sie lebensbejahend und menschenfreundlich ausfüllen. Wie es gut semitisch-jüdisch Rabbi Jehoschua, der christliche Jesus, schon vor zwei Jahrtausenden lehrte (Lukas 18,16): „Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn ihnen ist das Reich Gottes.“
Michael Blume
Veröffentlicht im Oktober 2021
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Bildnachweis
Titelfoto: Ancient statue of golden chinese dragon. (c) Adobe Stocks #303812572 von DECHA