Ian Barbours Erbe und der Islam. Mit Averroes und Ghazali über die Schöpfung Allahs nachdenken

Leitartikel von Hakan Turan

Wie arbeiten Muslime die historische Korangelehrsamkeit und Geistesgeschichte des Islam auf um sich heute im Spannungsfeld zwischen islamischer Glaubenslehre und moderner Naturwissenschaft zu positionieren? 

Im Zentrum steht im Folgenden zum einen das intellektuelle Erbe des Philosophen Ibn Rushd alias Averroes (gest. 1198) und des Theologen Ghazali (gest. 1111), sowie die Überlegungen der zeitgenössischen muslimischen Physiker und Intellektuellen Basil Altaie und Nidhal Guessoum, für die jeweils Ghazali und Averroes wichtige Orientierungspunkte aus der Tradition darstellen. Für eine erste Klassifikation von islamisch geprägten Positionierungen zur modernen Naturwissenschaft erweist sich die vom christlichen Physiker und Theologen Ian Barbour geprägte interdisziplinäre Science-and-Religion-Perspektive als hilfreicher Ausgangspunkt. Dazu werden wir sowohl einige koranexegetische, als auch metaphysische Positionierungen entlang von Barbours Typologie der möglichen Verhältnisse zwischen Naturwissenschaft und Religion kennenlernen, also entlang von Konflikt, Unabhängigkeit, Dialog und Integration (vgl. Barbour 2010). Es wird sich dabei herausstellen, dass ein religiöses Bekenntnis zum Koran kein Hindernis für eine Vereinbarung von Islam und moderner Naturwissenschaft darstellt, und dass einst in den intellektuellen Disziplinen des Islams wie beispielsweise in der Falsafa, also der islamischen Philosophie, und im Kalām, also der rationalen Theologie des Islam, zahlreiche Gedanken vorgebildet wurden, die heute erfolgreich für harmonische Verhältnisbestimmungen herangezogen werden. Dazu beginnen wir erst mit einer Skizze des historischen Hintergrundes dieser Diskussionen. 

Historischer Hintergrund: Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften im Islam

Die rational geordnete Natur gehört zu den zentralen Themen der koranischen Offenbarung. Dabei hat der Koran sowohl einen praktischen, als auch einen theoretischen Zugang zur Natur als Werk Gottes eröffnet. Zum praktischen Zugang heißt es beispielsweise: 

Und Er [Allah] hat euch alles, was in den Himmeln und was auf der Erde ist, dienstbar gemacht, alles von Sich aus. Darin sind wahrlich Zeichen für Leute, die nachdenken. 
(Der Koran, Sure 45, Vers 15, übersetzt von Bubenheim/Elyas) 

Zum theoretischen Zugang wiederum findet man: 

In der Schöpfung der Himmel und der Erde und in dem Unterschied von Nacht und Tag liegen wahrlich Zeichen für diejenigen, die Verstand besitzen, die Allahs stehend, sitzend und auf der Seite (liegend) gedenken und über die Schöpfung der Himmel und der Erde nachdenken […]. (Sure 3, Verse 190-191) 

Die islamische Tradition leitete daraus ein uneingeschränkt positives Verhältnis zur Natur ab, sowohl mit Blick auf eine ethisch zu verantwortende Nutzbarmachung der Natur, als auch hinsichtlich der Natur als rational erschließbare Schöpfung, die in wortloser Sprache von der Erhabenheit, Einheit und Weisheit ihres Urhebers berichtet. Dies beides in Verbindung mit der raschen Expansion des frühen islamischen Reiches hatte epochale Folgen: Die Muslime entdeckten neben persischen, indischen und chinesischen Wissenstraditionen auch das vor allem in Syrien gepflegte geistige Erbe der griechischen Antike. Und sie eigneten es sich mithilfe christlicher und jüdischer Übersetzer in einem zweihundert Jahre währenden Prozess in nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen vollständig an und integrierten es in unterschiedlichen Abschattungen sowohl in ihren praktischen, als auch theoretischen Weltbezug. 

So brachte die islamische Zivilisation einerseits Neues, aber reihte sich andererseits nahtlos in die Welt der Spätantike ein und wurde für viele Jahrhunderte auf drei Kontinenten zum zentralen Verwalter und Fortsetzer des antiken Erbes mit eigenen neuen Ansätzen und Schwerpunkten (Bauer 2020). Der jüdische Orientalist Franz Rosenthal schreibt, dass rein praktische Nutzenerwägungen zum Vorantreiben dieses bemerkenswerten Vorgangs wahrscheinlich nicht ausgereicht hätten, 

[…] wenn die Religion Muhammads nicht von Anfang an die Rolle des Wissens (ʿilm) als Haupttriebkraft des religiösen und damit gesamten menschlichen Lebens in den Vordergrund gestellt hätte […] Ohne diese dem Islam von Haus eigene Zentralstellung, ja gewissermaßen religiöse Verehrung von ‚Wissen‘ wäre die Übersetzungstätigkeit vermutlich weniger wissenschaftlich, weniger ausgreifend gewesen und hätte sich wohl viel mehr auf das unbedingt Zwecknotwendige beschränkt, als es tatsächlich der Fall gewesen ist. (Rosenthal 1965: 18) 

Die staatlich geförderte Übersetzungstätigkeit – man denke etwa an das „Haus der Weisheit“ im Bagdad des 9. Jahrhunderts – wurde begleitet von einem intellektuellen Aufarbeitungs- und Aneignungsprozess, der vor allem mit Blick auf die islamischen Textgelehrten teilweise angespannt, aber mindestens so sehr auch fruchtbar verlief. Das Ergebnis war überwiegend weder eine Kopie, noch eine Negation des übernommenen Wissens. Vielmehr entstanden hoch ausdifferenzierte islamisch-theologische Textwissenschaften, teils aus ganz eigenem Impuls, teils unter dem Einfluss traditionsreicher Theologien der anderen Religionen. Ebenso bildeten sich islamische Denktraditionen aus, die bis heute jeweils für eine bestimmte Form des philosophischen Denkens im Islam stehen. Von neuplatonisch-aristotelischen über rational-theologischen bis hin zu sufistischen Ansätzen ist hier vieles zu finden, was ab dem 12. Jahrhundert nicht nur Einzug in die lateinsprachige Welt gefunden hat, sondern oft erst dank dem philologischen Eifer europäischer Orientalisten, die viel Vergessenes neu entdeckten, auch im modernen innerislamischen Diskurs wieder einen hohen Stellenwert erhalten hat (vgl. Rudolph 2004).

Als besonders spannend und ertragreich haben sich historisch die Wechselwirkungen zwischen Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft erwiesen. Hierzu nur ein Beispiel: Unter den rationalen islamischen Theologen in Basra und im Bagdad des 9. und 10. Jahrhunderts gab es zwölf miteinander konkurrierende Atomtheorien. Eine Streitfrage lautete dabei: Wie viele Atome müssen zusammenkommen um einen sinnlich wahrnehmbaren Körper zu bilden? Die Theologen vertraten so verschiedene Antworten wie 1, 2, 6 und 8 und 36, wobei sie jeweils unterschiedliche physikalische und geometrische Argumente hervorbrachten (vgl. Van Ess 1997: 467 f.). Diese erstaunliche Affinität der rationalen islamischen Theologie zu Atomen wirkt bis heute nach, wie wir später an der Naturphilosophie des Physikers Basil Altaies sehen werden. 

Die erwähnten Texttraditionen und intellektuellen Denkschulen bilden heute einen wichtigen Pool von Rahmentheorien für fast alle differenzierteren islamischen Bemühungen für eine Verhältnisbestimmung zwischen Islam und Rationalität, und vor allem: zwischen Islam und moderner Wissenschaft. Dabei wird umfassende Harmonie nominell zwar von fast allen muslimischen Stimmen postuliert, aber wenn es konkret wird, so zeigen sich auch viele Verwerfungen. Denen müssen wir uns auch stellen. Darum schauen wir uns von den angekündigten Verhältnisbestimmungen als erstes den Verhältnistyp „Konflikt“ näher an.

Konflikt: Naiver Literalismus und Festhalten an der Textauslegung des frühen Islam

Beginnen wir hierzu mit der exegetischen Frage Ian Barbours. Barbour war auf der Suche nach Alternativen zum Konfliktverhältnis zwischen Naturwissenschaft und christlicher Religion. Konkret problematisierte er die konfliktträchtigen Haltungen eines naturwissenschaftlich argumentierenden Materialismus, der Religion gar nicht gelten lässt, und einer biblizistischen Perspektive, die den Wortlaut der Heiligen Schrift zum Richter über jegliche naturwissenschaftliche Theorie erhebt. Dieselben Konfliktperspektiven sind auch Muslimen in der Moderne geläufig. Beispiel: Mit dem Einzug der Evolutionstheorie in den arabischsprachigen und somit auch innerislamischen Diskurs Ende des 19. Jahrhunderts entstand neben einer einflussreichen positivistisch denkenden Elite und einigen aufgeschlossenen Religionsgelehrten eine immer stärker werdende religiöse Gegenbewegung, die die mutmaßlich materialistische Evolutionstheorie durch eine literale Lesart von Koranversen und Prophetenworten (genannt Hadithe), die eine direkte Erschaffung Adams durch Gott aus einer erdähnlichen Substanz nahelegen, bis heute zu widerlegen versucht (vgl. Turan 2021). 

Literal bedeutet hier mehr als nur eine Fixierung auf den vieldeutigen Wortlaut: Gemeint ist der Wortlaut, wie er in den früheren Jahrhunderten des Islams von bestimmten Gelehrten verstanden wurde bzw. wie man heute unterstellt, dass er damals verstanden wurde. In jedem Fall umfassen diese teils sehr plastischen Deutungen auch Themenbereiche, die heute als Domäne der Naturwissenschaften gelten. Bei einem Bestehen auf die auch naturwissenschaftliche Autorität von reinen Textgelehrten ist freilich ein Konflikt vorprogrammiert. 

Es blieb dabei nicht nur bei einer Ablehnung von biologischer Evolution. So gibt es auch heute noch einflussreiche Gelehrte vor allem aus salafistischen und wahhabitischen Kontexten wie Salih al-Fawzan, die in der koranischen Formulierung „Allah bringt ja die Sonne vom Osten her“ (Sure 2, Vers 258) nicht eine religiöse Einordnung des für jedermann sichtbaren Sonnenaufgangs von Osten erkennen, sondern einen Beweis dafür, dass die Sonne und überhaupt das ganze Universum täglich westwärts um die Erde als statischem Zentrum des Universums rotieren (Ahlu al-Thikir 2020). Sie setzen dabei neben ihrem Charisma auf die Alltagsintuition und auf ein Verständnis von Natur, in dem große Teile der Physik ab Galilei samt Trägheitsprinzip schlichtweg fehlen. Darum sehen sie auch keinen Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft. Denn ihr Konflikt ist einer mit der modernen Naturwissenschaft, in der sich etliche falsche Theorien befinden würden. Es verwundert nicht, dass dergleichen Autoren sich oft argumentative Verstärkung aus literalistisch-christlichen und verschwörungstheoretischen Diskursen holen, wobei neuerdings auch Flat-Earth-Sympathisanten an Raum zu gewinnen scheinen. Dies sind keine guten Nachrichten. Vor allem drohen sie die gesamte rationale Tradition des Islams als unwesentliche Fußnote erscheinen zu lassen. Darum muss man vergleichbare Positionen ernst nehmen.

Unabhängigkeit: Das rationale Erbe Ghazalis und Ibn Rushds

Spätestens an dieser Stelle stellt sich oft folgende Frage: Sind solche groteske Anachronismen wie ein Hängen am Geozentrismus im 21. Jahrhundert für eine Religion wie dem Islam nicht normal, da Muslime den Koran doch als wortwörtliche Offenbarung Gottes ansehen, während die christliche Theologie die Bibel historisch-kritisch als fehlbaren Bericht von Menschen zu analysieren vermag? Die Antwort lautet: nein. Bereits Barbours Analyse des christlichen Diskurses ist mit solchen Vereinfachungen nicht vereinbar. So betont Barbour, dass die Tradition der Bibelexegese neben der historisch-kritischen und der literalen Lesarten schon seit Augustinus auch einen metaphorischen Zugang zur Schrift kannte, die aber eine Herkunft der Bibel im Heiligen Geist nicht ablehnt. Einen literarischen Höhepunkt findet diese Art die Bibel zu lesen bei Galileo Galilei, der 1613 in einem hoch politischen Brief an seinen Vertrauten Benedetto Castelli als überzeugter Naturwissenschaftler und Christ auftritt. Ausgangspunkt war die Frage, wie Josua 10:12 mit dem neuen kopernikanischen Weltbild vereinbar sein soll, da dort davon die Rede ist, dass Gott für eine Weile den Lauf der Sonne um die Erde aufhielt, was laut den Gegnern von Kopernikus und Galilei den Geozentrismus nachweise. 

Galilei antwortet sowohl auf die Frage nach der Josua-Geschichte, stellt aber auch einige allgemeinere Überlegungen zum Verhältnis zwischen Offenbarung und Naturwissenschaft an. Beides ist für unser islambezogenes Thema interessant. Zum einen gibt es heute, 500 Jahre nach Galilei, tatsächlich einzelne Islamgelehrte, die dieselbe wörtlich genommene Josua-Geschichte (wie sie in Hadithen überliefert ist) öffentlich ebenfalls als Argument für einen Geozentrismus verwenden (Ahlu al-Thikir 2020: 03:20:00). Aber noch spannender sind Galileis allgemeinere Thesen, die Frieden zwischen fortschreitender Wissenschaft und Textexegese schaffen sollen, zumal diese Thesen fast wortwörtlich ca. 450 Jahre vor ihm auch schon vom andalusischen islamischen Philosophen Averroes alias Ibn Rushd (gest. 1198) in seiner „Entscheidenden Abhandlung“ formuliert wurden, in der er ebenfalls die rationale Forschung gegen textbezogene Vorbehalte verteidigt (vgl. Averroes 2009). 

Hier einige der vielen Parallelen zwischen Galilei und Ibn Rushd: Galilei (1984: 170) schreibt mit Blick auf die Konkurrenzfrage zwischen Offenbarung und Naturwissenschaft: „… dass zwei Wahrheiten einander niemals wiedersprechen können…“. Averroes (2009: 19) wiederum schreibt zur selben Frage: „… dass die [eine] Wahrheit der [anderen] Wahrheit nicht entgegengesetzt ist, sondern mit ihr in Einklang steht und für sie Zeugnis ablegt.“ Der nicht immer wörtlich zu nehmenden Sprachstil der Bibel sei laut Galilei (1984: 170) gewählt worden, „… um sich dem Verständnis der Massen anzubequemen.“ Die Wahl leicht verständlicher Aussagen im Koran, die vom wissenschaftlich geschulten Leser im Konfliktfall nicht wörtlich genommen werden müssen, begründet Averroes (2009: 23) mit „… der Verschiedenheit der Veranlagungen der Menschen und in der Unterschiedlichkeit ihrer Fähigkeit zur Zustimmung.“ 

Beide fordern also die Bereitschaft in wissenschaftlichen Fragen im potenziellen Konfliktfall den rationalen Beweisen Vorrang vor wörtlicher Textauslegung zu geben. Und beide sehen diese pädagogische Seite der Offenbarungstexte, also ihre leichte Verständlichkeit für die breiten Massen zum Preis des Verzichts auf empirische Präzision, nicht als Widerspruch zu ihrem göttlichen Ursprung oder zum rationalen Weltbild. Ob beide dieselben Gedanken unabhängig voneinander gedacht haben, da das Problem ähnlich gestellt war, oder ob es eine literarische Verbindung geben könnte, muss hier offenbleiben.

Aber ist der Philosoph Averroes überhaupt repräsentativ für die islamische Welt um mit ihm islamische Rationalität begründen zu können? Nun: Er selbst ist im Islam als Philosoph bis zu seiner Wiederentdeckung in der Moderne in der Tat ein Exot geblieben. Kein Exot war jedoch diejenige Person, mit dessen Werk Averroes sich mehrmals im Leben kritisch und zugleich würdigend auseinandergesetzt hat, und dessen Ideen auch das zitierte Werk des Averroes beeinflusst haben, nämlich der Theologe al-Ghazali (gest. 1111), der lange als zentrale Symbolfigur der sunnitischen Orthodoxie galt, die der islamischen Philosophie den Todesstoß versetzt hätte. Mittlerweile wurde dieses Bild in der Islamwissenschaft korrigiert: Die Philosophie kam nach Ghazalis philosophischer Kritik an der neuplatonischen Metaphysik eines Avicenna und al-Farabi auch nach seiner religiösen Verurteilung von dreien ihrer Thesen als Unglaube nicht etwa zum Stillstand, sondern fand unter neuen Schwerpunktsetzungen Einzug in große Teile der theologischen Literatur und Ausbildung. Dies ist zweifelsfrei beispielsweise für die philosophische Logik belegt, für die sich Ghazali Zeit seines Lebens engagiert hatte, auch wenn er diese als eigentliches Eigentum der Theologen und Propheten auszuweisen versuchte (vgl. Rudolph 2004: 56 ff., 86 ff.). 

Für uns besonders spannend sind Ghazalis Überlegungen zum Umgang mit Konfliktfällen zwischen Offenbarung und Naturwissenschaft, zumal Ghazali oft als heute noch einflussreichster Theologe des Islam angesehen wird. Ghazali diskutiert im Vorwort seiner berühmten Philosophiekritik die Frage, ob sich das Zustandekommen einer Sonnenfinsternis durch Licht, Schatten und Geometrie erklären lässt, wie die Philosophen es tun – oder ob es sich dabei um eine Art von Erscheinung Gottes am Himmel handelt, der sich die Sonne durch kurzzeitiges Erlöschen unterwirft, wie islamische Textgelehrte zu Zeiten Ghazalis unter Berufung auf einen Hadith behaupteten. Ghazalis Urteil über Theologen, die in dieser Sache mit den Philosophen streiten, ist eindeutig:

Wer glaubt, dass die Zurückweisung einer solchen [naturwissenschaftlichen] Ansicht in religiöser Hinsicht eine Verpflichtung ist, verschuldigt sich an der Religion und schwächt ihre Sache. Zum Beweis solcher Angelegenheiten gibt es geometrische und arithmetische Beweise, die keinen Zweifel lassen. (Von Ghazali 1980, zitiert nach Turan 2020: 153 f.)

Aber was ist zu tun, wenn es einen „eindeutigen Beleg“ in Koran und Hadith gibt, dessen Wortlaut den Erkenntnissen der Naturwissenschaft widerspricht, aber authentisch überliefert ist? Hier ist die Antwort:

Dann wäre ihre [metaphorische] Interpretation (taʾwīl) leichter als die Überheblichkeit gegen gesicherte Angelegenheiten. Und es gibt viele Wortlaute [in anderen Quellen], die mit rationalen Beweisen [ebenfalls] interpretiert wurden, die aber hinsichtlich ihrer Deutlichkeit nicht an diese Grenze [wie bei der geometrischen Erklärung der Finsternisse] heranreichen. (Von Ghazali 1980, zitiert nach Turan 2020: 156)

Abschließend ergehen strenge Wort an jene Theologen, die ihre Kompetenzen überschreiten:

Und am meisten profitieren die Religionsgegner davon, wenn der Helfer der Religion erklärt, dass dies und ähnliches [an wissenschaftlich Gesichertem] der Religion widerspricht. Und er erleichtert ihm [dem Religionsgegner] den Weg zur Widerlegung der Religion, wenn sie [d. h. ihre Wahrheit] von Bedingungen wie dieser abhängig gemacht wird. (Von Ghazali 1980, zitiert nach Turan 2020: 156)

Hinter dieser Parteiergreifung für den argumentativen Gegner steckt eine wichtige, weltanschauliche Überlegung:

Nachdem ihre Erschaffenheit [d. h. die der Welt] bewiesen ist, ist es gleichgültig, ob sie eine Kugel oder flach ist, oder ob sie sechseckig oder achteckig ist. (von Ghazali 1980, zitiert nach Turan 2020: 157)

Des Weiteren ist mit Blick auf Ghazali noch zu sagen, dass er naturwissenschaftliche Belege auch unterhalb des Gewissheitsgrades von Geometrie und Arithmetik für ausreichend hielt, um sie für gesichert zu halten (vgl. Turan 2020: 166 ff). Im Gesamtsystem Ghazalis bedeutet dies wieder, dass auch solche empirische Befunde metaphorische Deutungen des Korans und des Hadith legitimieren können, sofern sich dies auf empirische und nicht auf metaphysische Fragestellungen bezieht. 

Wir sind nun an einem für die heutige Situation sehr wichtigen Punkte angekommen: Jenseits der kompromisslosen Literalisten, gibt es nicht nur in der islamischen Philosophie, sondern auch in der klassischen islamischen Theologie gewichtige Stimmen, die sich eindeutig für die Möglichkeit aussprechen den Koran in einem übertragenen Sinne auszulegen, wenn ansonsten eindeutige Konflikte mit Erkenntnissen der rationalen Wissenschaften, also vor allem der empirischen Naturwissenschaft entstehen würden. Es gibt so betrachtet für den gebildeten Muslim keinen theologischen Grund dafür sich gut bestätigten Konzepten wie der Erdbewegung, der modernen Kosmologie oder gar der Evolutionstheorie pauschal zu verschließen, wo die moderne Naturwissenschaft in allen Fällen eine erdrückende Fülle bestätigender Hinweise angehäuft hat, die islamisch-theologisch noch am Anfang ihrer Verarbeitung stehen. 

Sowohl Ghazali, als auch Averroes werden in der Moderne von Muslimen häufig zitiert, wenn sie sich positiv zu naturwissenschaftlichen Theorien positionieren, die nicht unmittelbar dem Wortlaut islamischer Primärtexte zu entsprechen scheinen. Dies schafft eine Situation der relativen Unabhängigkeit zwischen empirischer Naturwissenschaft und phänomenbezogener Koranexegese. Die genannten beiden Gelehrten sind heute die populärsten, aber bei weitem nicht einzigen Anknüpfungspunkte für diese Art von Unabhängigkeit (vgl. Turan 2021: 126 ff). Interessant ist in jedem Fall, dass diese exegetische Unabhängigkeit zumeist begleitet wird von einem faktischen Dialoginteresse und von tief reichenden Integrationsansätzen im metaphysischen bzw. im systematisch-theologischen Bereich.   

Dialog: immanent kritisieren, miteinander vergleichen, voneinander übernehmen

Von hier aus ist es in den Werken unserer beiden Denker kein weiter Weg mehr zu Momenten des Dialogs im Sinne Barbours, beispielsweise in Form eines Vergleichs von Begriffen und Methoden von Theologie und Philosophie, die in den Jahrhunderten von Ghazali und Averroes auch die theoretischen Naturwissenschaften umfasste. So stellt Averroes in seiner „Entscheidenden Abhandlung“ eine weitreichende Analogie, ja sogar Gleichsetzung des koranischen Auftrages zur Reflexion über die Schöpfung Gottes und des philosophischen Nachdenkens über die erste Ursache aller Dinge her. Das philosophische Forschungsprogramm wird von Averroes sogar als religiöse Verpflichtung ausgewiesen (die „Entscheidende Abhandlung“ ist formal eine Fatwa!) – aber nur für die geistig vermögende Bildungselite der Muslime. Diese Beschränkung führt zugleich zu einer Pluralisierung und zugleich auch Legitimierung von formal sehr verschiedenen Bildungsformen: Der bildlich anschauliche religiöse Diskurs der breiten Volksmassen bleibt geschützt vor unvermittelten Eingriffen durch die streng rationale Wissenschaft, da den Massen das Verständnis für eine integrative Sicht auf die Wissenschaften und die Bedingungen metaphorischer Koraninterpretation fehle. Zwischen diesen beiden Bildungspolen liegt laut Averroes die dialektische Methode der Theologen, die zwar Logik anwenden, aber populäre Prämissen den abstrakteren wissenschaftlich gesicherten Prämissen vorziehen würden. Dieser Ansatz des Averroes ist kein Plädoyer für eine Lehre von doppelter (oder gar dreifacher) Wahrheit, wie Averroes in Europa manchmal missverstanden wurde. Vielmehr würdigt er die Pfadabhängigkeit eines jeden Lernprozesses: Es gibt am Ende nur eine Wahrheit. Aber es gibt verschiedene Arten ihrer Repräsentation, die aus Kohärenzgründen nicht vermischt werden dürfen. 

Einen in der islamischen Welt noch einflussreicheren Ansatz von Dialog im Sinne Barbours hatte zuvor schon Ghazali vorgelegt. Ausgangspunkt ist folgender scheinbare Widerspruch: Warum sollten Theologen gemäß Ghazali den Beweisen der Philosophen in Geometrie, Arithmetik und Astronomie Vertrauen schenken, aber ihrer Metaphysik widersprechen, obwohl die Philosophen damit doch auch die Existenz Gottes nachzuweisen versuchen? Ghazali liefert hierzu mehrere Argumente. Eines ist besonders beeindruckend und prägt den inhaltlichen Ansatz seiner gesamten Argumentation: Die Philosophen seien in der Metaphysik ihren in der Logik aufgestellten Prinzipien nicht treu geblieben und hätten geblendet vom Ruhm ihrer Vorgänger wissenschaftlich bzw. logisch nicht haltbare Thesen vorgelegt. Diese Thesen würden sich auf 20 an der Zahl belaufen, die Ghazali versucht mit den Mitteln des immanenten philosophischen Argumentierens (und nicht etwa durch Verweis auf Koran oder Hadith) aufzudecken. Entsprechend lautet der Titel seiner Philosophiekritik „Die Inkohärenz der Philosophen“ bzw. auf Arabisch „Tahāfut al-Falāsifa“ (vgl. Al-Ġazālī, 2000). Es war – wieder einmal – kein geringerer als Averroes selbst, der der scharfen Kritik Ghazalis eine umfangreiche Wiederlegung, ebenfalls in philosophischem Stil und unter vollständiger Zitierung und Kommentierung aller Passagen aus Ghazalis Werk widmete: „Die Inkohärenz der Inkohärenz“ (auf Arabisch: Tahāfut at-Tahāfut; vgl. Averroes 1987). Leider scheint Averroes aus noch ungeklärten Gründen ausgerechnet das oben zitierte Vorwort Ghazalis mit seinen großen Zugeständnissen an die Philosophie entgangen zu sein. In jedem Fall: Die von diesen Denkern angestoßene Tahāfut-Debatte zwischen zwei Formen islamischer Rationalität inspiriert bis in die Gegenwart zahlreiche muslimische Denker, Theologen und Philosophen. Eine Folge dieser Inspiration sind zeitgenössische Integrationsmodelle, die sich direkt oder indirekt genau auf diese beiden Autoren stützen. Von diesen ist im Folgenden die Rede.

Integration: Die Rückkehr der großen Synthesen (Basil Altaie und Nidhal Guessoum)

Seit den 2000-ern ist ein neuer Schwung in den innerislamischen Science-and-Religion-Diskurs gekommen. Nachdem über viele Jahrzehnte neben dem erwähnten Literalismus auch Projekte einer ideologisch voraussetzungsreichen „Islamisierung der Wissenschaft“ ausprobiert wurden, und andererseits die sehr populäre Bewegung der „Koranwunder“ versuchte Theorien der modernen Wissenschaft als im Koran vorweggenommen auszuweisen (Guessoum 2011), scheint sich mittlerweile ein bescheidenerer, aber umso rationalerer Trend zu entwickeln, der mehr an die Zeit der großen Synthesen erinnert als an uneinlösbare Herrschaftsversprechen von Textgelehrten über empirische Wissenschaft. Das wachsende Feld wird dabei dominiert von engagierten Einzelpersonen, die einerseits fest in der modernen Naturwissenschaft verwurzelt sind und diese als metaphysisch neutrales gemeinsames Gut der Menschheit deuten. Gleichzeitig haben sie einen vertieften Zugang zu mindestens einer islamischen Denktradition, die das Wirken Allahs in der Natur thematisiert, und sind darum bemüht diese Tradition zu aktualisieren und sie als Hintergrund für eine metaphysische Interpretation der modernen Wissenschaft zu nutzen, ohne diese Wissenschaft inhaltlich zu verändern. Eben diese Haltungen rechtfertigen es hier von integrativen Theologien der Natur im Sinne Ian Barbours zu sprechen. Im Folgenden möchte ich zwei prominente Beispiele vorstellen, die sich beide je in der Tradition Ghazalis (bzw. des Kalām) und Ibn Rushds  verorten.  

Das erste Beispiel ist der Neu-Erschaffungsansatz des muslimischen theoretischen Physikers und Kalām-Gelehrten Basil Altaie. Dieser ambitionierte Ansatz stellt eine Synthese aus Elementen des atomistischen und indeterministischen Weltbildes der rationalen islamischen Theologie, genannt Kalām, aus der Zeit zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert sowie der modernen Naturwissenschaft insbesondere in Form der Quantentheorie, dar (vgl. Turan 2024). Zugleich betont Altaie die Bedeutung des Theologen Ghazali für eine aktuelle islamische Rückbesinnung auf Rationalität, insbesondere in Form von Ghazalis weniger bekannter Naturphilosophie, die auch die obigen Zitate umfasst (vgl. Altaie 2025). Altaies Modell selbst macht den Kalām stark für eine theologisch begründete Philosophie der Quantentheorie, wobei vor allem deren Indeterminismus, also die relative physikalische Unbestimmtheit der genauen Zukunft eines Teilchens, für Altaie zentral ist. Seine wichtigsten Gedanken dazu hat er in „Islam & Natural Philosophy“ (vgl. Altaie 2023) dargelegt. Dieser Ansatz hat Parallelen zu den christlich geprägten „Quantum Divine Action“ Modellen wie die von Robert Russell und Nancey Murphey, sieht jedoch deutlich kleinere Zeitintervalle als diese vor, in denen Gott alle physikalischen Merkmale aller kleinsten Teilchen der Natur neu erschafft, ganz ähnlich, wie es der Kalām in Bagdad und Basra einst lehrte. 

Bei der kontinuierlichen Wiedererschaffung werden die physikalischen Werte des Teilchens stets verschieden geschaffen, wobei die konkrete Variation jedes einzelnen Wertes auf den Beschluss Gottes erfolgt und weder durch Naturgesetze determiniert ist, noch einem ontologischen Zufall unterliegt. Der Gesamtprozess der Schöpfung erfolgt trotzdem entlang von Naturgesetzen, die Gott erlassen hat, und die probabilistisch sind – man denke hier an die Grundgleichungen der Quantentheorie –, d. h. stets mehrere Ergebnisse mit je unterschiedlicher, aber feststehender Wahrscheinlichkeit ermöglichen und somit Gott bei jedem Neu-Erschaffungsvorgang die Freiheit lassen, einen von ihm gewählten Wert zu erschaffen, ohne das von ihm erlassene Naturgesetz zu verletzen. 

Damit kann Altaies Ansatz als eine Form des Okkasionalismus mit starker Naturgesetzlichkeit verstanden werden: Gott nimmt den gegenwärtigen Zustand der Welt zum Anlass um seinen nächsten Zustand zu erschaffen. Im Unterschied zu den jederzeit veränderlichen „Gewohnheiten Gottes“ im klassischen Kalām, besteht Altaie jedoch darauf, dass die Naturgesetze universell und unveränderlich sind, womit die zentrale Brücke zur modernen Naturwissenschaft geschlagen ist. Aber es sind aufgrund des quantenmechanischen Indeterminismus eben probabilistische Gesetze, in deren physikalischen Unbestimmtheiten Gott alles bestimmend, aber physikalisch stets subtil wirkt. So kommt Altaie auch auf die prinzipielle Möglichkeit der Erfüllung von Gebeten, und im Extremfall auch von Wundern, auch wenn diese nicht im Zentrum seines Ansatzes stehen, sowie auf das Konzept einer theistischen Evolution. Der Koran habe sich laut Altaie zur Erschaffung des Menschen offen genug geäußert, sodass er Raum für eine evolutionäre Erschaffung offengelassen habe. Die moderne Kosmologie wird von Altaie anerkannt, spekulative Erweiterungen wie das Multiversum für theologisch möglich befunden. Sprichwörtliche Lichtjahre trennen einen solchen islamisch-theologisch fundierten Ansatz vom Weltbild der oben erwähnten kruden Geozentristen.

Ein zweites Beispiel mit ebenfalls hohem Integrationsanspruch, aber mit gänzlich anderer Rahmentheorie liefert der algerische Astrophysiker Nidhal Guessoum. Guessoum ist Autor des Buches „Islam’s Quantum Question“ (2011), in dem er einen sehr aufschlussreichen Überblick über die aktuellen Strömungen und Themen der Science-and-Religion-Debatte in der islamischen Welt gibt. Die Einleitung ist einer Darstellung der Biografie und des Wirkens des Averroes gewidmet. Für Guessoum ist dieser Philosoph auch heute maßgeblich – zum einen, weil bei diesem natürliche Ursache-Wirkungszusammenhänge als Zweitursache neben Gott als erster Ursache eine zentrale Rolle spielen. In diesem Zweitursachenmodell bleibt die Natur kausal weitgehend geschlossen, auch wenn die Natur, ihre Gesetze und ihre Zwecke weiterhin von Gott gesetzt und gewirkt sind. Zum Vergleich: In Altaies Ansatz, und noch mehr im klassischen Okkasionalismus des Kalām, sind Ursache-Wirkungszusammenhänge ein Schein ohne naturimmanenten metaphysischen Verursachungsmechanismus. 

Guessoum geht davon aus, dass Gott nicht direkt in äußere physikalische Prozesse eingreift. Eine spirituelle Verbindung zu Gott haben wir vielmehr über unseren Geist (vgl. Bigliardi 2014: 161 f.). Guessoum hat ferner einen radikalen Schritt getan, den Averroes vermieden hat. Demnach müssen die Wunder, von denen der Koran berichtet, als besonderes Zusammentreffen von Umständen im Rahmen der geltenden Naturgesetze, oder mit Blick auf ihre moralische oder spirituelle Botschaft verstanden werden. In jedem Fall sind echte makroskopische Wunder nach Guessoum nicht realisierbar – auch nicht durch Ausreizung mikroskopischer Unschärfen in der Natur der Quanten. In diesem Punkt war Altaie deutlich optimistischer. 

Von besonderer Bedeutung ist für Guessoum schließlich auch die weiter oben zitierte „Entscheidende Abhandlung“ des Averroes, in der er die rationalen Wissenschaften grundsätzlich gutgeheißen hat, und dabei insbesondere auch die Naturwissenschaften davon entbunden sich am Wortlaut des Korans messen zu müssen, solange sie ihre Thesen wissenschaftlich belegen können. Und: Die religiöse Forderung des Averroes an geistig vermögende Muslime professionell rationale Wissenschaft zu betreiben, ist eine Pointe, die bei Ghazali trotz seiner hohen Wertschätzung rationaler Beweise fehlt. Dies macht für Autoren wie Guessoum den Philosophen Averroes als symbolische Leitfigur islamischer Wissenschaftlichkeit besonders attraktiv.

Fazit: Anbruch einer Zeit der Erneuerung von islamischen Rationalitätskonzeptionen

So wie Ghazali und Averroes historisch für zwei verschiedene Formen von philosophischer Rationalität im Islam stehen, stehen die von ihnen beeinflussten modernen Physiker Altaie und Guessoum für zwei verschiedene Interpretationszugänge zur modernen Naturwissenschaft. Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, dass Vernunft und moderne Wissenschaft nicht außerhalb des Fokus der koranischen Offenbarung liegen, und dass sich im Kern „Wahrheit und Wahrheit nicht widersprechen können“ (sinngemäß Galilei und Averroes). Vergleicht man die Positionen Altaies und Guessoums sowie die von weiteren gegenwärtigen Autoren, dann kann man folgende sieben Punkte zur gegenwärtigen Situation des Science-and-Religion-Diskurses im Islam festhalten, die auch für den interreligiösen Dialog und speziell für einen Vergleich mit den von Barbour dokumentierten Modellen interessant sind:

  1. Elaborierte islamische Integrationsansätze haben einen sehr starken Bezug zu mindestens einer islamischen Denktradition aus der Geschichte, die sie zu bestimmten Teilen komplett erneuern und zu anderen Teilen direkt übernehmen.

  2. Auffällig ist das Fehlen von Komplementaritätsansätzen, die den Dualismus der Quantentheorie als Analogon für eine Komplementarität zwischen Naturwissenschaft und Religion deuten würden. Vielmehr haben wir es bei den heutigen muslimischen Integrationsmodellen meist mit metaphysischen Schichtenmodellen zu tun.
     
  3. Die Theodizeethematik spielt in diesen Ansätzen keine wesentliche Rolle. Verwandt mit dieser Feststellung ist ist die Beobachtung, dass prozesstheologische Ansätze in diesen ebenso selten vorkommen wie Separationsansätze in der Art von NOMA („Nonoverlapping Magisteria“). Dafür ist manchmal eine umso größere Nähe zum Okkassionalismus auffällig, in dem Gott den Gang der Dinge permanent bestimmt, wenn auch dem Menschen ein freier Wille zugesprochen wird, der von Gott während der Schöpfung berücksichtigt wird.
     
  4. Die vollständige Naturgesetzlichkeit der Welt im Sinne der modernen Naturwissenschaft wird anerkannt, aber stets unter Ausschluss eines echten ontologischen Naturalismus. Es ist stets Gott der wirkt, wobei die Wirkungsmechanismen in den Modellen sehr unterschiedlich sind (Okkasionalismus, Zweitursachenmodelle).

  5. Die Unschärfen der Quantenphysik erweisen sich bei manchen Autoren als entscheidende metaphysische Schnittstelle zwischen Natur und Gottes Schöpfungstätigkeit. Es gibt aber auch deterministische und kompatibilistische Modelle wie z. B. das des iranischen Physikers Mehdi Golshani, die einen anderen Zugang zur Quantentheorie wählen. 
     
  6. Auf der exegetischen Ebene tendieren die Autoren zu einer relativen Unabhängigkeit der empirischen Forschung vom Korantext, obwohl sie letzteren in der Regel vollauf als göttliche Offenbarung anerkennen. Der Integrationsaspekt der vorgestellten modernen Modelle konzentriert sich meist auf das metaphysische Modell einer von Gesetzlichkeit durchzogenen Natur.
     
  7. Der Science-and-Religion-Diskurs der hier beschriebenen Art ist ähnlich wie im Christentum stark von den Denk- und Arbeitsweisen muslimischer Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler geprägt, insbesondere aus dem Bereich der Physik.

Hakan Turan
Veröffentlicht im Februar 2025

Quellen

Altaie, Basil (2025): Natural Philosophy of Imām Al-Ghazālī, Penang: Baytul Hikma. 

Altaie, Basil (2023): Islam & Natural Philosophy. Principles of Daqīq al-Kalām, Oldham: Beacon Books. 

Averroes / Franz Schupp (Hrsg.) (2009): Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie, Hamburg: Felix Meiner.

Averroes / Simon van den Bergh (Hrsg.) (1987): Averroes’ Tahafut al-Tahafut, Cambridge: E. J. W. Gibb Memorial.

Barbour, Ian G. (2010): Naturwissenschaft trifft Religion. Gegner, Fremde, Partner? (aus dem Englischen), Göttingen u.a.: Vandenhoeck & Ruprecht.

Bauer, Thomas (2020): Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient, München: C. H. Beck.

Bigliardi, Stefano (2014), Islam and the Quest for modern Science. Conversations with Adnan Oktar, Mehdi Golshani, Mohammed Basil Altaie, Zaghloul El-Naggar, Bruno Guiderdoni and Nidhal Guessoum, Istanbul: Swedish Research Institute in Istanbul.

Bubenheim, F. / Elyas N. (2004), Der edle Quran und die Übersetzung seiner Bedeutungen in die deutsche Sprache. Medina: König-Fahd-Komplex zum Druck vom Qurʾān. 

Galilei, Galileo / Anna Mudry (Hrsg.) (1987): Schriften. Briefe. Dokumente. Band 1: Schriften, Berlin: Rütten & Loening.

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