WER WAR SCHULD AM TODE JESU ?

DIE BLEIBENDE ERWÄHLUNG DES JÜDISCHEN VOLKES IN GOTTES BUND

Jährlich zur Passions- & Osterzeit wird die Schuldfrage am Tode Jesu neu gestellt und in Diskussions-runden wie Bibelkreisen immer wieder thematisiert. Ich nahm  an einem  solchen Hauskreis der SELK teil, und bei der Exegese der Passionsgeschichte begegnete mir Gedankengut, wie ich es selbst im eigenen Religionsunterricht früher kennen gelernt habe. Treffend hat diese alte Meinung  Sigebert von Gembloux um 1100 beschrieben, „Chris­tus wurde um die dritte Stunde von den Juden mit der Zunge, um die sechste Stunde von den Römern mit den Händen gekreuzigt".  Es wurde der Prozess Jesu vor Pilatus nach dem Johannes-Evangelium besprochen. Die Schuldfrage lag eindeutig auf jüdischer Seite, wobei der Römer Pilatus die Schuldlosigkeit Jesu erkannt und ihn noch retten wollte. Früher dachte ich auch so, heute sehe ich das ganz anders. Deshalb möchte ich hier von mir z.T. schon im obigen Hauskreis geäußerte Gedanken und Überzeugungen niederschreiben, die ich durch Teilnahme am Christlich-Jüdischen Dialog in Seminaren und Akademie-Tagungen gewonnen habe. An den Dialogen haben führende Evangelische u. Römisch-katholische Theologen (Klappert, Hendrix) & Rabbiner teilgenommen.

  Man kann als Christ solche Dialoge mit Juden nicht führen, wenn man an der Schuld des Jüdischen Volkes am Kreuzigungstod Jesu festhält. Historisch ist die Judenschuld nicht Aufrechtzuhalten, auch wenn die unkritische Lektüre der Evangelien einem eine solche suggeriert.

Zweifellos haben die uns vorliegenden Formulierungen in den Evangelien der Verbreitung dieser im judenfeindlichen Rom viele Steine aus dem Weg geräumt; leider auf Kosten der historischen Korrektheit, wie die kritische Forschung allmählich zutage gefördert hat. 1

 

Das Umfeld der Passion ist die Lage der Juden in Palästina in den ersten Jahrzehnten unserer Zeitrechnung unter römischer Herrschaft.  Israel  litt in der Zeit Jesu sehr stark unter der Knute Roms. Die römischen Besatzer und deren Kollaborateure - wie z.B. die den “Hohen Rat” bildenden Sadduzäer - waren dem Jüdischen Volk verhasst. Das Land befand sich in einer religiösen Gärung, in der unterschiedliche Glaubensrich­tungen miteinander stritten.  Daneben finden sich mehrere messianische Bewegungen, teilweise unter charismatischen Führergestalten, die alle in  irgendeiner Form das Volk Israel erlösen wollten; „Räu­berkönige", wie der jüdisch-römische Geschichtsschreiber Flavius Jose­phus sie herabschätzend  nennt.

Die Forschung hat einige Namen dieser “Messiasse” ans Licht gebracht, von denen das Jüdische Volk auch die militärische Befreiung vom römischen Joch erwartet hat. Die Römer jagten, fingen und kreuzigten die “Messiasse” und deren Anhänger (aus römischer Sicht waren das alles naturgemäß potentielle, gefährliche Unruhestifter). Pilatus tat sich da besonders hervor; er wurde später wegen seiner Brutalität von Rom abberufen.

Das Volk jubelte seinen “Messiassen” zu, solange sie lebten. Wurde so ein „Messias“ gekreuzigt, so war das allein noch nicht schlimm, denn er konnte ja Kraft seiner göttlichen Macht dann vom Kreuz herabsteigen, und mit seinen himmlischen Heerscharen die Römer ins Meer jagen und daraufhin die Stämme Israels zum Zion  führen. Starb er allerdings am Kreuz, so war er ein “falscher Messias” und das enttäuschte Volk fluchte und vergaß ihn. 

Auch Jesus, der Lazarus vom Tod erweckt hat, wurde vom Volk gehuldigt (Joh. 12,12 ff.). Jesus ist in Jerusalem wie ein König empfangen worden. Der Ein­zug zeigt Elemente des altisraelischen und des hellenisti­schen Herrscherzeremoniells. Das konnte man politisch deuten. Dann predigte Jesus im Tempelbezirk vor dem Volk mit großem Zulauf. Dass er die Tische der Geldwechsler um­warf, denen Gewinnsucht unter­stellt wurde, musste die Hohen Priester empören. Jesus erschien als Unruhestifter, wenn nicht gar als Aufrührer. Das missfiel den neidischen Schriftgelehrten, Pharisäern & Sadduzäern und der “Hohe Rat” trachtete auf Vorschlag Kaiphas Jesum, schon vor seinem Jerusalem-Einzug, nach dem Leben (Joh.11,47 ff.). Jesus wurde gefangen, vom “Hohen Rat” verhört und an Pilatus überführt. Klappert wies darauf hin, dass kein einziger Pharisäer daran beteiligt war, alles romtreue Sadduzäer. Die Evangelien schreiben: “das Volk” schrie: „Kreuziget Ihn (Jesum)”. Johannes präzisiert, dass dieser Schrei nur vom “Hohen Rat” und den Knechten gerufen wurde (Joh.19, 6); dieses ist auch historisch nachvollziehbar. Wenn überhaupt, dann würde das Jüdische Volk „Steinigt Ihn”, aber nicht die römische Hinrichtungsart  „Kreuziget Ihn” schreien. Außerdem lebte der “Messias” noch, und hatte die Chance die Volkssehnsucht zu erfüllen. Noch war Jesus in höchstem Ansehen. Die verhassten Rom-Kollaborateure konnten das Volk gar nicht gegen ihren  “Messias”  aufhetzen, sondern sie mussten sich schon eigener Schrei-Helfer bedienen. Ein sehr probates Verfahren, wie es ja auch heute noch viel praktiziert wird.

Das Jüdische Volk kann deshalb nicht für den Tod Jesu zur Verantwortung gezogen werden! 

  Leider hat die Kirche konfessionsübergreifend bis ins 20. Jahrhundert hinein hier entscheidend versagt und dadurch sehr viel Unheil in unsere Welt gebracht. Gott kann das nicht gewollt haben, da für mich die Allgütigkeit Gottes außer Frage steht.

 Leo Baeck, ein Wegbereiter des Christlich-Jüdischen Dialogs, wies als einer der ersten auf eine theologische Konsequenz hin: Es gibt keine doppelte Erwählung und keine zwei Bünde, sondern es gibt nur eine Erwählung und einen Bund. Aber dieser eine Bund ist durch JESUS CHRISTUS zugleich offen für die ganze Menschheit. „Hinzuerwählung“ statt „Substitution“; diese Gedanken führten in der Rheinischen Landeskirche durch Synodalbeschluss zu einer Neuformulierung in der Präambel der Kirchenordnung. 

Klappert erläutert: Der rheinische Synodalbeschluss bekennt die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes und erkennt, dass die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist. Wie entscheidend dieser Satz ist, lässt sich an dem einzigen Verwerfungssatz des rheinischen Synodalbeschlusses zeigen, der die Diskontinuitätsthese der antijudaistischen Tradition der Kirche verwirft:

»Wir stellen darum fest: Durch Jahrhunderte wurde das Wort >neu< in der Bibelauslegung gegen das jüdische Volk gerichtet: Der neue Bund wurde als Gegensatz zum ­alten Bund, das neue Gottesvolk als Ersetzung des alten Gottesvolkes verstanden. Diese Nichtachtung der bleibenden Erwählung Israels und seine Verurteilung zur Nichtexistenz haben immer wieder christliche Theologie, kirchliche Predigt und kirchliches Handeln bis heute gekennzeichnet. Dadurch haben wir uns auch an der physischen Auslöschung des jüdischen Volkes schuldig gemacht  >Neu< bedeutet darum nicht die Ersetzung des >Alten<. Darum verneinen wir, daß das Volk Israel von Gott verworfen oder von der Kirche überholt sei.«

 Seit den 80-ger Jahren haben alle anderen Landeskirchen ähnliche Beschlüsse gefasst, und auch dem Vatikan sind solche Gedanken nicht mehr fremd; wenn auch die Durchdringung bis zum “Fußvolk” noch viel Zeit benötigen wird (Generationenfrage). Ich musste inzwischen leider erleben, wie sogar evangelische Pfarrer von diesem Gedankengut nichts wissen wollten, und den o.g. Landeskirchlichen Synodalbeschluss ablehnten. Was 2000 Jahre eingebrannt ist, lässt sich nicht so leicht löschen. Auch die Orthodoxe Kirche hat die neuen Einsichten bisher nicht angenommen, sie praktiziert leider noch keinen Christlich-Jüdischen Dialog.

 Aus obigen Überlegungen erübrigt sich auch eine Taufe der Juden, da das Volk Israel bereits bleibend erwählt ist.

Pabst Benedikt XVI hat in seinem neuesten Jesu- Buch sich von der Schuld der Juden am Tode Jesu distanziert und der Judenmission eine Absage erteilt.

Martin Luther hat die heutigen Erkenntnisse nicht gehabt, er wollte Juden taufen, und war über seine Misserfolge derart enttäuscht, dass er die schrecklichen Judenbriefe verfasst hat, die die Nazis als Legitimation für ihr Handeln “verkauft” haben.

 Es gibt nur einen “Messias”, der nicht bleibend gestorben ist, JESUS CHRISTUS, unser HERR. Durch seine Auferstehung ist er echt. Wenn das die Juden erkannt hätten, bräuchten sie nicht mehr auf immer neue Messias-Gestalten zu warten. Nur die kleine Gruppe der “Messianischen Juden” hat das eingesehen. Sie sehen sich in der Tradition der frühen Jerusalemer Christen unter dem Herrenbruder Jakobus.

Die Menschwerdung Gottes in JESUS CHRISTUS ist zentraler Glaubensinhalt der Christenheit. GOTT selbst hat sich aus Liebe für alle Menschen am Kreuz hingegeben, aber durch seine Auferstehung uns die Verheißung aufgezeigt, wir müssen es nur annehmen. Dietrich Bonhoeffer hat das in die aufbauenden Worte gefasst: „Wer Ostern kennt, kann nicht verzweifeln“.

  GOTT, sein SOHN und der HEILIGE GEIST können nicht voneinander getrennt werden. Es sind verschiedene Seiten ein- und derselben Einheit. Auch das ist christlicher Glaubensbestand. Ich muss zugeben, dass diese Gedanken das Schwierigste in interreligiösen Gesprächen darstellen. Aber trotzdem müssen wir im Dialog bleiben, wir können nur gewinnen.

  Dr. Georg Linke, Aachen, Februar 2009; überarbeitet im März 2011

 1 Bertold Klappert: „Miterben der Verheißung“  ISBN 3-7887-1760-2

 

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