MIT SCHAMANEN IN DER TRANSSIB
Seit es kognitiv denkende Menschen gibt, spielen, zusammen mit religiösen Fragen, auch die Fragen nach dem Weltbild eine Rolle in ihrem Bewusstsein. Ich hatte einmal Gelegenheit auf einer tagelangen Bahnreise durch Sibirien das Abteil mit Schamanen aus Yakutien zu teilen. Über Familienbilder, aber vor allem über meine Landkarten (ich hatte ausgezeichnete Karten der National Geographic Society dabei) kamen wir schnell ins Gespräch, das ich, die einmalige Gelegenheit nutzend, ins Religiöse lenkte. Ich konnte ihnen nichts Neues erzählen, denn sie kannten sich im Christentum bestens aus, dafür lernte ich umso mehr. Sie erklärten mir: „Unsere Religion ist die älteste, 20 000 Jahre sind nachweisbar, 30 000 sind wahrscheinlich. Wir haben keinen persönlichen Gott, der ist für uns transzendent, wie das gesamte Jenseits. Es ist müßig, darüber zu spekulieren. Mit der Geburt betreten wir das Diesseits, leben und wirken hier und mit dem Tod kehren wir zurück. Ob hinter all dem ein höherer Plan steckt, können wir zwar vermuten, aber nie ergründen. Alles betrachten wir als natürlich; eine Totentrauer, wie ihr sie habt, ist uns fremd. Die Vorstellung eines persönlichen Gottes (bzw. von Göttern) ist eine menschliche Erfindung, die erst in den Hochkulturen entwickelt wurde.“ Diese Kerngedanken, die klar von einem ganzheitlichem Weltbild zeugen, haben mich sehr bewegt. Ich war dankbar für so eine Begegnung.
ANTIKE
Auch in den Hochkulturen, mit deren persönlichen Gottesvorstellungen, hielt sich das ganzheitliche Weltbild unangefochten. Geozentrisch, mit einer oberen „göttlichen“ Hemisphäre, Satan in der Unterwelt, und wir auf der flach gedachten Erdoberfläche. Sumerer, Babylonier und Pharaonen übermittelten dieses Bild, das zweifellos eine gewisse Geborgenheit ausstrahlte, weiter. Auf solchen Vorstellungen sind auch die biblischen Schöpfungsberichte aufgebaut. Es war eine Meisterleistung der Hellenen, eventuell unter Einfluss der seefahrenden Phönizier, zur Kugelgestalt der Erde zu gelangen. Eratosthenes von Kyrene berechnete um 250 v. Chr. mit Schattenlängen den Einfallswinkel der Sonnenstrahlen zweier Orte , die auf nahezu demselben Meridian mit großer aber bekannter Entfernung voneinander liegen, zu einem Zeitpunkt, bei dem die Sonne am südlicheren der Orte im Zenit stand (dort Schattenlänge Null), sehr genau den Erdumfang. Aristarchos von Samos erkannte etwa zur gleichen Zeit aus Beobachtungen und geometrischen Überlegungen die Größendominanz der Sonne, und folgerte daraus als erster Mensch das heliozentrische Weltbild. Leider folgten seine Zeitgenossen ihm nicht, und so musste die Menschheit noch über anderthalb Jahrtausende bis Kopernikus warten. Die Naturwissenschaft der Antike wurde durch zwei Umstände praktisch geblockt. Berechnungen im heutigen Sinn waren nicht möglich, da die Bedeutung der Null für das Zahlensystem nicht erkannt worden war. Diese Einsicht erbrachte erst tausend Jahre später die Indische Mathematik; und über die Araber (Al-Hwarizmi ca.780 - nach 847) gelangte das Dezimalsystem allmählich in unseren Kulturkreis. Der zweite Umstand war die Missachtung der Priorität des Experimentes vor philosophischen Dogmen. Bestes Beispiel dafür war das Festhalten am Kreisdogma für die Planetenbahnen, da nur der Kreis göttlich-vollkommen gedacht wurde. Erst die Arbeiten von Galilei & Kepler im 17. Jhd. räumten mit dem antiken Dogma auf.
Mit Thales von Milet begannen griechische Denker um 600 v. Chr. Weltgeschichte zu schreiben und die europäische Denktradition zu gründen. Der Vorsokratiker Parmenides von Elea hat etwa 100 Jahre später in seinem Lehrgedicht „Über die Natur“ die Meinung vertreten, die vielfältigen Erscheinungen in unserer Erfahrungswelt seien nur trügerisch; das unveränderliche Wahre, das Echte Sein befindet sich im Denkraum. Die großen griechischen Denker (Platon & Aristoteles) griffen das Gedankengut auf, und vor allem Platon entwickelte es in seinem berühmten Höhlengleichnis weiter, in dem wir Menschen angekettet nur die Schatten der Wirklichkeit erkennen können und folglich diese Schatten für das Ganze halten. Diese Ideen wurden Jahrhunderte später von Johannes (in seinem berühmten Evangeliums-Prolog), Plotin, Augustinus und Nikolaus von Kues weiterverfolgt. Heisenberg hat sich damit beschäftigt und sich bei der Formulierung seiner Quantenmechanik davon leiten lassen. Ich komme darauf noch zurück.
Vom Abendland fast unbeachtet entwickelten sich im fernen Osten einige Hochkulturen, alle mit eigenen Religionen und ebenfalls ganzheitlichen Weltbildvorstellungen. In der Bibel findet sich nichts darüber. Der umfassendste Kontakt entstand im Rahmen der Feldzüge Alexanders des Großen und seiner Nachfolger (Diadochen). Alexander informierte seinen Lehrer Aristoteles regelmäßig und an der Universität Alexandria wirkten Gelehrte aus Asien. In der Folgezeit hielten Handelsbeziehungen (Seidenstraße) einen gewissen Informationsaustausch aufrecht.
Mittelalter
Naturkatastrophen (Erdbeben), Pandemien (Pest) hielten die Menschen in ihrem ganzheitlichen Weltbild für Strafen Gottes für ihre Sünden. Die Kirche tat nichts um dem entgegenzuwirken. An einer aus gebrannten Ziegeln gemauerten Kirchenwand in Parchim sah ich viele halbkugelförmige Vertiefungen. Mir wurde erklärt, dass die Menschen in Pestzeiten aus Verzweiflung mit Münzen das Mauerwerk ankratzten, um das Schabepulver der „heiligen“ Wand sich dem Essen beizumischen, Rettung erhoffend. Die Pest traf „Gute“ & „Böse“ gleichermaßen, wie bei Erdbeben auch (Lissabon 1755); das verlangte nach neuen Erklärungen durch natürliche Ursachen. Man ist heute geneigt zu sagen, dass die Pestforschung im 13. Jhd. die Geburtsstunde der Moderne war. Das ganzheitliche Weltbild wurde plötzlich hinterfragt; religiös unabhängige Fragestellungen gewannen in der Forschung an Bedeutung. Durch das Dezimalsystem wurden die Dinge plötzlich berechenbar; die Araber führten uns das vor, außerdem waren sie ausgezeichnete Instrumentenbauer. Als der befreundete Kalif Harun ar-Raschid Karl dem Großen eine kunstvolle Wasseruhr schenkte, erschrak Karl, befürchtete Teufelswerk, und ließ die Uhr sofort in Aachen vergraben. Islamische Forscher aus Spanien waren m.E. die ersten, die die Priorität experimenteller Ergebnisse postulierten, was bei uns viel später Galilei gegen massiven kirchlichen Widerstand ebenfalls durchzusetzen versuchte. Der Übergang vom Mittelalter zur Moderne lag förmlich in der Luft. Dazu kommt, dass alle Versuche der Philosophie, die Existenz Gottes zu beweisen, scheiterten; aber auch alle Versuche die Nicht-Existenz Gottes zu beweisen scheiterten genauso. Diese Frage ist und bleibt persönliche Glaubenssache, immer.
Moderne
Das 15. & 16. Jhd. erlebte epochale Umwälzungen. Reformationen (Hus, Luther), die Eroberung Konstantinopels durch die Türken, den Buchdruck mit beweglichen Lettern aus Metall (Gutenberg), die Entdeckungen Vasco da Gamas & Kolumbus, die Weltumsegelung Magellans, die Kopernikanische Wende vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild mit der Deutung Brunos vom unendlichen All (Fixsterne sind andere Sonnen), die Zeichnungen Leonardo da Vincis und schließlich die Erfindung des Fernrohrs. All dies markiert den Übergang zu einer neuen Zeit, der Moderne. Aufforderung zum Eigendenken „Ich denke, also bin ich“ (Descartes) ergab Fortschritte in der Mathematik z.B. in der analytischen Geometrie, die es Kepler ermöglichten, seine Gesetze der elliptischen Planetenbahnen zu formulieren. Der Boden für ein berechenbares Weltmodell war bereitet, auf dem Isaak Newton sein Werk vollenden konnte. Die Kirche misstraute dieser Entwicklung, musste aber eine Niederlage nach der anderen einstecken. In der Folgezeit, der sog. „Aufklärung“, verblasste das ganzheitliche Weltbild zugunsten des materialistischen. Weiterentwicklungen in der Mathematik, besonders in der neuen Infinitesimalrechnung (Leibnitz, Euler, Laplace) schienen die Berechnungsmöglichkeiten der Naturphänomene grenzenlos zu steigern. Besonders Laplace erkannte die Kraft der partiellen Differentialgleichungen. Er ließ sich vor Napoleon zu folgendem Zitat hinreißen: »Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennt, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiss sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen. Der menschliche Geist bietet in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben verstand, ein schwaches Abbild dieser Intelligenz dar. « Auf die Frage Napoleons: „Wo ist in diesem, Ihrem Weltbild GOTT?“ kam die berühmte Antwort: „Majestät, auf diese Hypothese kann ich verzichten!“ Das ist Materialismus pur, der direkt zum Atheismus führte (Hegel, Nietzsche, Feuerbach, Lenin u.a.), und das Denken der Menschen in den folgenden Jahren dominierte, bei manchen bis heute. Man glaubte tatsächlich alles könnte man über Mechanik und Elektrodynamik „erklären“; zumindest mathematisch spiegeln. Raum & Zeit bildete dabei den festen, ewigen Hintergrund, so wie es Kant in seinen Schriften auch annahm. Aber war es wirklich so? Konnte man das frühere ganzheitliche Weltbild „ad acta“ legen? Zweifel und Sorgen beschlichen den bekannten Psychoanalytiker C.G.Jung, der das mit den Worten ausdrückte: „Als… die Wissenschaft die Beseeltheit der Natur aufhob, da gab sie ihr keine andere Seele, sondern setzte die menschliche Ratio über die Natur…. Die Wissenschaft… würdigte die Naturseele nicht einmal eines Blickes. Wäre sie sich der welterschütternden Neuheit ihres Vorgehens bewusst gewesen, so hätte sie einen Moment innehalten und sich die Frage vorlegen müssen, ob nicht größte Vorsicht bei dieser Operation, wo der Urzustand der Menschheit aufgehoben wurde, angezeigt wäre." [Ges. Werke 18Bd. Das symbolische Leben, Ziff. 1368] . Wie berechtigt die Warnung C.G. Jungs war, zeigte sich in der physikalischen Entwicklung mit Beginn des 20. Jhds.
Die Quantenrevolution
Zwei Physiker, Max Planck und Albert Einstein, standen am Anfang einer völlig neuen Situation in der Physik. Erfolglos versuchte Planck die Frequenzabhängigkeit der Strahlungsintensität eines sog. Schwarzen Strahlers, die experimentell genau vorlag, mit den vorhandenen thermodynamischen Gesetzen zu deuten. Mit einem als Notlösung gedachten radikalem Trick mit einer von ihm erfundenen neuen Naturkonstante, dem Planckschen Wirkungsquantum, gelang ihm dann die gewünschte mathematische Spiegelung hervorragend, wobei die Strahlung nicht kontinuierlich, sondern nur in ganzzahligen Paketen seines Wirkungsquantums abgegeben wird. Das war revolutionär, vorgetragen im Jahr 1900, der Geburtsstunde der Quantenphysik. Albert Einstein war begeistert, deutete die plancksche Arbeit nicht als Trick, sondern- richtig- als etwas Neues, das ausbaufähig ist (ab 1905). Auf seiner Interpretation, die Planck nur sehr zögernd annahm, basierte hauptsächlich die Frühentwicklung der Quantentheorie. Beide Wissenschaftler wurden für diese Arbeiten mit dem Nobelpreis geehrt. Die folgenden Jahre brachten eine Flut neuer experimenteller Ergebnisse (u.A. zum Befund, dass Atome stabile, strahlungsfreie Niveaus für ihre bewegten Elektronen haben, was klassisch gesehen unmöglich ist). Die junge Quantenphysik musste auf ein neues Fundament gestellt werden. Das geschah in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts unter der Leitung von Niels Bohr, der in Kopenhagen die besten jungen Talente um sich versammelte (praktisch alles spätere Nobelpreisträger). Der entscheidende Durchbruch gelang Werner Heisenberg mit seiner Matrizenmechanik der Zustandsvektoren im unendlich dimensionalen Hilbertraum; der sich des komplexen Zahlenraums bedient. Das war der große Wurf, der es gestattete, mathematisch in einen Raum aller Möglichkeiten, der sog. Potentialität, einzudringen. Die Potentialität ist eine rein geistige Größe, nicht materiell, und daher unserer Anschauung verschlossen. Heisenberg formulierte daher: „Über den tiefsten Grund unserer Wirklichkeit, kann nur in Gleichnissen gesprochen werden,“ und weiter: „Für die moderne Naturwissenschaft steht am Anfang nicht das materielle Ding, sondern die Form, die mathematische Symmetrie.“ Es ist für mich schon paradox, dass der Mensch, ohne eigene Vorstellungsmöglichkeit, in die Potentialität mathematisch eindringen und zu verwertbaren Aussagen für unsere materielle Welt kommen kann.
Den Weg, wie aus logischen Konstrukten im Hilbertraum der Potentialität gültige Aussagen für unsere faktische Realität werden, hat der Hilbertschüler John von Neumann 1932 in seinen Grundlagen der neuen Quantenmechanik (QM) exakt dargelegt. Über eine sog. Spurbildung gelingt es, Rechenergebnisse im reellen Zahlenraum zu gewinnen. Nur solche sind für unsere Realität brauchbar. Es sind heute die präzisesten Spiegelungen der gesamten Physik, die wir haben. Leider erfordert das Erlernen der Mathematik ein jahrelanges Studium, und die Unanschaulichkeit der Quantenwelt trägt das Ihrige dazu bei, ihr die notwendige Anerkennung in weiten Kreisen zu verweigern. Dabei hat der renommierte Quantenphysiker Bernhard d´Espagnat gesagt: „Jeder, der sich eine Vorstellung von der Welt zu machen sucht - und von der Stellung des Menschen in der Welt -, muss die Errungenschaften und die Problematik der Quantentheorie einbeziehen. Mehr noch, er muss sie in den Mittelpunkt seines Fragens stellen."
Die neue QM eilte von Erfolg zu Erfolg, besonders, als es Erwin Schrödinger gelang, mit seiner nach ihm benannten Gleichung, eine auf Differentialgleichungs-Basis aufgebauten alternativen äquivalenten Beschreibung der Zustände in der Potentialität aufzuzeigen. Diesen Weg habe auch ich bei meinem Physikstudium kennengelernt. Philosophisch gesehen, ist aber der Heisenbergsche Weg über seine Matrizenmechanik deutlich aussagekräftiger.
Einsteins Widerstand Als 1927 Heisenberg seine berühmte Unbestimmtheitsrelation fand, nach der es unmöglich ist, Ort und Impuls eines Teilchens gleichzeitig exakt anzugeben (das Produkt aus Orts- und Impulsunbestimmtheit kann nicht kleiner als ein Plancksches Wirkungsquantum werden), rief das Einsteins Protest hervor. Es widersprach total seinem Realitätsverständnis. Auf den Solvay-Konferenzen 1927 u. 1930 lieferte er sich mit Niels Bohr Kämpfe, die alle Bohr gewann. Sowjetische Wissenschaftler merkten sofort, dass die Unbestimmtheitsrelation ihr atheistisch-materialistisches Weltbild zerstört, denn die von Laplace gelegte Basis sah ja vor, von jedem Atom Ort & Impuls beliebig genau zu kennen, um über Vergangenheit und Zukunft der Welt auszusagen. Das ging nun nicht mehr. Das musste geheim bleiben, und sie strichen das Wort Quantenmechanik aus ihrem Lexikon. Es half ihnen genau so wenig, wie in der Antike den Pythagoreern die Geheimhaltung der irrationalen Zahlen.
Heisenberg und Schrödinger folgerten aus ihrer QM-Mathematik das Phänomen der Verschränkung: Sich trennende Teilchen können im kohärenten Zustand über beliebige Entfernungen miteinander „verschränkt“ bleiben. Sie besitzen dann keine Eigenindividualität mehr. Eine Messung an einem Ort zerstört die Kohärenz und entlarvt instantan (d.h. ohne jeden Zeitverzug) die Eigenschaften auch des zweiten Teilchens, obwohl an diesem überhaupt nicht gemessen worden ist. So etwas gab es in Einsteins Weltvorstellung schon gar nicht. Er sprach spöttisch von “spukhafter Fernwirkung“ und startete 1935 zusammen mit Podolski und Rosen das sog. EPR-Paradoxon-Papier. In diesem nannte er drei Bedingungen, die in seinem Weltbild alle erfüllt sein müssen, damit die Welt dem „objektiven lokalen Realismus“ folgt, der für Einstein und die meisten Physiker fundamental war:
- Die Eigenschaften physikalischer Objekte sind messbar und kommen ihnen unabhängig davon zu, ob sie tatsächlich beobachtet werden oder nicht (OBJEKTIVISMUS).
- Jedem Element der Realität muss in einer physikalischen Theorie ein Gegenstück entsprechen, wenn die Theorie vollständig sein soll (REALISMUS).
- Objekte, die sich nicht gegenseitig beeinflussen können, haben voneinander unabhängige Eigenschaften (LOKALITÄT).
In einem Gedankenexperiment wiesen die drei nach, dass die QM wegen der Verschränkung die Lokalität verletzt, und daher noch nicht ganz fertig sein kann. Die QM hätte zwar schon jetzt durch ihre Erfolge einen hohen Wahrheitsgehalt; sie müsse aber durch das Auffinden von sog. „Verborgenen Parametern“, die ihr die Lokalität geben würden, „ nur noch etwas verbessert“ werden. Niels Bohr antwortete sehr schnell wieder mit einer Kritik an Einsteins Realitätsverständnis, und der sog. „Mainstream“ folgte Bohrs Ansicht, und legte die Angelegenheit zunächst beiseite. Einstein starb 1955 im Gefühl, nicht ausreichend verstanden worden zu sein. Neun Jahre nach Einsteins Tod begann der Klärungsprozess. Der am CERN tätige Physiker John Bell begann nach den verborgenen Parametern Einsteins zu suchen. Er formulierte Ungleichungen, denen lokale Theorien genügen müssen, und stellte zu seiner größten Überraschung fest, dass die Mathematik der QM diesen Ungleichungen nicht genügt. Das bedeutet, die vorliegende Theorie der QM ist und bleibt nicht lokal, und kann gar nicht im Einsteinschen Sinn ergänzt werden. Sie müsste durch eine komplett neue lokale ersetzt werden, was angesichts ihrer gewaltigen Erfolge kaum vorstellbar ist. Oder die Natur selbst folgt nicht dem objektiven lokalen Realismus, was für die meisten Physiker noch schwerer vorstellbar war. Dann würde die „verrückte“ QM Recht behalten. Bell erkannte, dass diese essentiellen Fragen nur durch Experiment entschieden werden können, und schlug solche „EPR-Experimente“ vor.
Die Entscheidung Es stellte sich schnell heraus, dass 1964 kein Labor der Welt EPR-Experimente mit der nötigen Gewissheit ausführen konnte. Wir mussten bis 1981 warten, ehe Alain Aspect in Frankreich das erste vertrauenswürdige Resultat vorlegen konnte: Die Natur wird durch die vorliegende QM-Mathematik korrekt gespiegelt. Das war für viele ein Schock und verlangte nach Bestätigung. In den Folgejahren haben - bis heute - andere Laboratorien in der Welt mit größter Präzision und mit variierenden Bedingungen EPR-Experimente gefahren, immer mit demselben Ergebnis. Der Fehler, dass die obige Aussage falsch sein könnte, ist inzwischen unvorstellbar klein, so dass Anton Zeilinger in Wien das Resultat als bleibend eingestuft hat. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass unsere Wirklichkeit nicht dem „objektiven lokalen Realismus“ folgt, den uns unsere Sinneseindrücke suggerieren. Das materialistische Weltbild der letzten über 300 Jahre ist im Popperschen Sinn falsifiziert worden, d.h. es gilt nicht, es muss wieder durch ein ganzheitliches ersetzt werden. Allerdings haben wir heute mathematische Werkzeuge, um auch in den transzendenten Bereich der Potentialität einzudringen, um zu Aussagen für unsere Faktenrealität zu kommen. Physikalisch entsteht unsere Faktenwelt der räumlich und zeitlich unterscheidbaren Dinge durch Dekohärenz, der verschränkten kohärenten Superpositionen, die aus der Potentialität heraus in Raum und Zeit materialisiert werden. Deshalb haben Raum & Zeit in der Potentialität nicht die uns geläufigen Bedeutungen. Ich habe es aufgegeben, mir das irgendwie vorzustellen. Und noch ein Kriterium ist bedeutungsvoll: Die Potentialität ist Ursache, unsere Faktenwelt ist Wirkung, nicht umgekehrt. Ich versuche dies jetzt durch ein Bild-Gleichnis verständlicher zu machen. Man stelle sich ein logisch-mathematisches Konstrukt im komplexen Hilbertraum der Potentialität wie eine prächtige Skulptur vor. Hinter der Skulptur sei eine ebene Bildwand, die den reellen Zahlenraum symbolisiert. Mit einer Lampe strahle ich die Skulptur an, worauf auf der Bildwand der Skulpturschatten zu sehen ist. Das symbolisiert die von Neumannsche Spurbildung; der Schatten als Spur ist das vorhergesagte reelle Messergebnis. Der Vorgang ist eindeutig bestimmt. Umgekehrt geht es nicht. Ich kann aus Informationsmangel nicht vom Schatten her die Skulptur rekonstruieren. Jetzt wird es verständlich, warum die QM die Potentialität als die Ursache, und die Faktenrealität als die Wirkung festlegt.
„Materie ist geronnener Geist“ hat einmal H.P.Dürr sehr schön formuliert. Anton Zeilinger hat einen Vortrag mit den Worten begonnen: „Einstein sagte, ‘Die Welt kann doch nicht so verrückt sein, wie uns eben die QM dies erzählt‘; heute wissen wir, die Welt ist so verrückt“. Zeilinger zitierte hier seinen amerikanischen Wissenschafts-Freund Daniel Greenberger.
AUSBLICK
Wie geht es weiter? Die QM ist, auch 100 Jahre nach ihrer Entstehung, philosophisch noch nicht abgeschlossen. Das zeigt sich schon daran, dass es viele Interpretationen gibt. Außerdem ist die ebenfalls sehr erfolgreiche Allgemeine Relativitätstheorie Einsteins mathematisch mit der QM nicht verträglich. Hier liegt auf beiden Seiten Handlungsbedarf vor, um zum „Heiligen Gral“, der Quantengravitation (so drücken es manchmal Physiker aus), zu kommen. Es gibt zwar Kandidaten, aber Land ist noch nicht in Sicht. Ist die Welt im Grunde auf Information aufgebaut, wie es Zeilinger vermutet, oder fehlt uns noch eine entscheidende Idee, um auch philosophisch zum Abschluss zu kommen? Salopp gesagt: Wir brauchen einen neuen Einstein!
Wenn ich mir Gedanken mache, was Bestand haben wird, also keine Interpretation ist, so möchte ich drei Dinge nennen:
- Die Heisenbergsche Unbestimmtheits- Relation (ist überall und immer gültig)
- Die Pauli-Verbote (regeln das Periodensystem, die Chemie und die Spektrallinien)
- Das Ergebnis aller EPR-Experimente (unsere Faktenrealität mit Raum & Zeit ist ein Dekohärenz-Produkt der primären, kohärenten Potentialität). Daraus folgt ein ganzheitliches Weltbild mit einer zweigeteilten Wirklichkeit, bestehend aus der geistigen Potentialität der unbegrenzten Möglichkeiten und unserer materiellen Realität der durch Raum & Zeit unterscheidbaren Dinge.
Das Ist die im Untertitel genannte „Rückkehr der ganzheitlichen Sichtweise“ zur Charakterisierung des Heutigen Weltbildes.
Der Traum einer TOE (Theory of Everything) , die in der Lage ist alle Wirkungen aus Potentialität & Realität zu spiegeln, liegt m.E. in weiter Ferne; wenn es denn so eine Theorie überhaupt geben sollte.
Schließen möchte ich mit einer Erkenntnis des Philosophen Nikolaus von Kues (Cusanus) aus seinem Schlusswerk „Die Jagd nach Weisheit“ aus dem Jahr 1463 : GOTT ist ewig und durch den Menschen nicht hinterfragbar. Cusanus nennt GOTT „Das Machen Können“ , dass das „Werden Können“ schuf, das seinerseits das „Geworden Sein Können“ schuf, das auch werden konnte. Cusanus kannte die eingangs erwähnten aus der Antike stammenden Gedanken und formulierte sie so, wie eine Vorahnung der neuen QM-Erkenntnisse. Sein „Werden Können“ hat die Kraft der Potentialität, das „Geworden sein Können“, dass auch werden konnte, d.h. unsere materielle Welt, zu schaffen. Ich habe gestaunt und zitiere Cusanus in Gesprächen sehr gern.
Dr. Georg Linke Aachen, im Juni 2019
Nachtrag
In meinem Artikel habe ich deutlich machen wollen, warum bei strikter Dominanz des Experimentes vor theoretisch-philosophischen Vorstellungen, der Argumentationsweg wieder direkt zu einem ganzheitlichen Weltbild führt. Die Ergebnisse sauber durchgeführter Experimente sind für mich, wie Antworten des Schöpfers auf unsere Fragen über seine Schöpfung. Es ist uns Menschen grundsätzlich nicht möglich, auf anderem Weg aus den nahezu unendlich vielen logisch - mathematisch einwandfreien Konstrukten diejenigen zu erkennen, die der Schöpfer zur Spiegelung seines Werkes geadelt hat. Wenn ästhetische Gesichtspunkte (Wunsch-Gedanken) von uns hinzugezogen werden, dann begeben wir uns auf Glatteis. Das mag schon mal von Erfolg gekrönt sein - auch Glatteis kann man sturzfrei überstehen - meistens aber nicht, wie das o.g. Beispiel der Planeten-Kreisbahnen aus der Antike zeigt.
Dass Menschen in der Antike (wie Parmenides v. Elea) eine fantastische Spürnase gehabt haben, und dieses unser täglichen Anschauung widersprechende Gedankengut nicht verlorengegangen ist, sondern sich über die vielen Jahrhunderte weiterentwickelt hat, erscheint mir wie ein Wunder.
Für mich ist Schöpfung ohne Schöpfer undenkbar, besonders im Lichte der zurückgekehrten ganzheitlichen Sichtweise unseres Weltbildes. Gern schließe ich meine Gedankengänge mit den Worten des Anglikanischen Geistlichen und bedeutenden Quantenphysikers John C. Polkinghorne: "An Gott im Zeitalter der Naturwissenschaften zu glauben bedeutet die Gewissheit zu haben, dass hinter der Geschichte des Universums ein Gedanke und eine Absicht stehen, und dass der EINE, dessen verborgene Gegenwart sich darin ausdrückt, unser Anbetung wert und der Grund unserer Hoffnung ist".
G. Linke
Literaturempfehlung: Hans-Jürgen Fischbeck Erkenntnis und Bekenntnis Die Quantenphysik revolutioniert unser Weltbild und rehabilitiert religiöses Denken LIT Verlag Berlin 2021 ISBN 978-3-643-25027-8
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