Die Weite des Himmels
Editorial 2022 von Frank Vogelsang
Was sehen wir, wenn wir in einer klaren Nacht in den Himmel über uns schauen, nach Möglichkeit fern von Städten und künstlichem Licht? Wir sehen eine Unzahl von Sternen, die kein Ende zu nehmen scheinen, je länger wir blicken, desto mehr Leuchtpunkte sind zu erkennen. Die Weite des Raums kann eine hypnotische Wirkung entfalten, einen Sog, der den Blick nicht an einem bestimmten Punkt ruhen lässt, sondern immer tiefer in die Weiten des Universums hineinzieht.
Es gibt ein berühmtes Zitat des Königsberger Philosophen Immanuel Kant, das am Ende seiner Kritik der praktischen Vernunft zu lesen ist: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Auch hier bekommt der klare Nachthimmel eine herausragende Rolle. Kant hätte auch formulieren können: Wenn ich erkennen will, was die Welt ausmacht, so sollte ich auf den bestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir achten. Hier zeigen sich Grunddimensionen der Wirklichkeit, in der wir leben.
Die Ehrfurcht, die uns ergreift, ist scheinbar zeitlos. Sie erfasste die Sternenseher der frühen Kulturen in Babylon und Ägypten ebenso wie heutige Astronomen. Der Blick in den nächtlichen Himmel zeigt die größte Ausdehnung, die wir erleben können. Bei allen sichtbaren Sternen schleicht sich die Ahnung ein, dass hinter diesen Sternen sich wieder unzählige Sterne befinden. Die Konfrontation mit dieser exzeptionellen Wirklichkeit hat eine Nähe zur Religion. Der Theologe Friedrich Schleiermacher hat deshalb auch gefolgert: „Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion.“
Die Wirkung hat der Anblick auch in unserem nüchternen und naturwissenschaftlich geprägten Jahrhundert nichts eingebüßt. Viele Menschen interessieren sich für die Astrophysik, gerade weil es hier in besonderer Weise um die Wirklichkeit geht, in der wir leben. Als der Astrophysiker Heino Falcke im Jahr 2019 ein erstes, in einem internationalen Forschungsprozess aufwändig gemachtes Bild von einem schwarzen Loch präsentieren konnte, hat dies weltweit Aufmerksamkeit erregt.
Was fasziniert uns an der Weite des Himmels über unseren Köpfen? Ich denke, es ist zweierlei. Zum einen relativieren sich die Geschehnisse auf unserer Erde. Es ist intuitiv klar, dass unsere, menschliche Perspektive durch den weiten Raum erheblich relativiert wird. Zum anderen aber kommen wir so mit der größeren Wirklichkeit in Kontakt und haben eine Ahnung von der Besonderheit des Kosmos, in der wir leben. Das wertet uns wiederum zugleich auf, weil wir ja Zeugen dieser erhabenen Weiten sein können. Beides zugleich sind grundlegende religiöse Komponenten. Der christliche Glaube an Gott stellt den Menschen angesichts der Wirklichkeit Gottes in Frage und zugleich wertet er den Menschen auf, weil der Mensch sich als von Gott angesprochen erlebt. Diese paradoxe Gleichzeitigkeit ist auch zu erleben, wenn wir uns in die Weiten des Universums vertiefen. Das galt gestern, das gilt heute und das wird auch morgen gelten. Wozu auch immer die Menschheit noch in der Lage sein wird, dieses ehrfurchtserheischende Gegenüber wird sie nicht überwinden können. Auch in tausenden von Jahren wird ein Mensch, wenn er denn den Blick in einen klaren nächtlichen Himmel lenkt, mit dem Größtmöglichen konfrontiert sein, was die Wirklichkeit zu bieten hat. Nicht umsonst steht der Himmel auch für das Jenseits dessen was uns (be)greifbar erscheint.
Frank Vogelsang
Publiziert im Februar 2022
Bildnachweis
Amoudi: Adobe Stock #274936754 © meberth