Leben als Geschenk: Der Philosoph Michael Sandel zum Gen-Enhancement

Im vergangenen Jahr ist die deutsche Übersetzung von Michael Sandels Büchlein zur Bioethik bereits in dritter Auflage erschienen. Von Sandel heißt es, er habe sich hier als „ein großer öffentlicher Intellektueller“ erwiesen. So veröffentlichte auch der Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, kurz nach Erscheinen der deutschen Fassung eine Empfehlung des Buches. Was ist Sandels Position, und was ist davon zu halten?

Im vergangenen Jahr ist die deutsche Übersetzung von Michael Sandels Büchlein zur Bioethik bereits in dritter Auflage erschienen: Plädoyer gegen die Perfektion: Ethik im Zeitalter der genetischen Technik (engl. 2007). Das Vorwort von Jürgen Habermas wurde verschiedentlich als generös bezeichnet, und von Sandel selbst heißt es, er habe sich hier als „ein großer öffentlicher Intellektueller“ erwiesen. [1] So veröffentlichte auch der Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, kurz nach Erscheinen der deutschen Fassung eine Empfehlung des Buches.

(Eine Leseprobe von Sandel gibt es z.B. hier.)

Der an der Universität Harvard lehrende Philosoph Sandel entwickelt seine Argumentation anhand zahlreicher relevanter Fälle im Schnittbereich von Ethik, Wirtschaft und Gesundheitswesen. So weist er etwa auf die zunehmende Ritalin-Verwendung zu nicht-medizinischen Zwecken oder hormonelle Verfahren zur Steigerung der Körpergröße hin.

Sandels Position im Enhancement-Diskurs

Während die Genomchirurgie mit CRISPR-Cas9-Varianten stets weiterentwickelt wird, wirkt es fast so, als würde sich auf dem letzten Kapitel von Sandels Büchlein bereits eine kleine Staubschicht ansammeln. Er argumentiert dort für die Verwendung embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken. Bereits 2009 hat Obama in diesem Bereich die Regeln zur Vergabe öffentlicher Fördermittel entschärft, und inzwischen hat auch dieser Bereich mit induzierten pluripotenten Stammzellen ungeahnte Entwicklungen gesehen. Dort scheint es ja jetzt möglich, auch aus entwickeltem somatischem Gewebe Stammzellen zu gewinnen – was die verbrauchende Embryonenforschung überflüssig machen könnte. Doch dass Sandel hier immerhin eine Position einnahm, die einer simplistischen Einordnung als Konservativer widerspricht, wurde von vielen seiner Kritikern nicht gewürdigt.

Dennoch sind insgesamt keinerlei Entwicklungen zu verzeichnen, angesichts derer die Enhancement-Debatte als überholt zu gelten hätte, im Gegenteil. Das Genome Editing wurde nun zum ersten Mal angewendet, um Menschen medizinisch zu behandeln (und nicht nur, um etwa Mäuse zu modifizieren) und Diskussionen über genetisches Enhancement, also nicht-therapeutische, „optimierende“ Anwendungen, wirken streckenweise immer weniger utopisch (oder dystopisch, je nach dem).

Hier ist auch eine Aktualisierung der Hinweise notwendig, mit denen Sandel ein Schlaglicht auf die wirtschaftlichen Interessen der Pharma-Firmen wirft. In einer Reportage über Eingriffe in die menschliche Keimbahn, also die Modifikation der in der Vererbung relevanten Geschlechtszellen, heißt es etwa:

„Traditionell drängt der Bereich der Reproduktionsmedizin mit innovativer Technologie hastig in den klinischen Bereich vor. Unfruchtbarkeit ist außerdem ein großes Geschäft. Wenn [Kyle] Orwig [einem Stammzell-Experten an der University of Pittsburgh] eine einfache, genetische Behandlung bei Tieren gelänge, würden Zehntausende von Männern, die keine eigenen Spermien herstellen können, darin eine verführerische Option sehen, da ihre Möglichkeiten im Augenblick begrenzt sind. Das gleiche gilt aber auch für den Industriezweig der künstlichen Befruchtung (IVF), deren Geschäftsvolumen in den USA im letzten Jahr 2 Billionen Dollar betrug (und weltweit vielleicht 10 Mal so groß war).“ [2]

Hier geht es zwar eher um therapeutische Verfahren, doch die Zahlen belegen potentielle kommerzielle Interessen auch beim Enhancement. Selbst unter denjenigen, die die „Optimierung“ gesunder Menschen für eine gute Idee halten, besteht keinerlei Übereinstimmung über Grenzen. Manche drängen darauf, dass Menschen Menschen bleiben müssen, und werben zugleich für eine „liberale Eugenik“ (Nicholas Agar). Doch auch das transhumanistische Lager, das sich über das Etikett „Mensch“ nicht den Kopf zerbricht, ist sich uneins. Für die einen ist Gen-Optimierung eine Selbstverständlichkeit, während sie jedoch von Versuchen, auch die Moralität genetisch zu optimieren, vehement abraten (John Harris). Andere wiederum argumentieren für Enhancement auf einer case-by-case-Basis, jedoch ohne bestimmte Bereiche auszunehmen (sinnliche Wahrnehmung, physische Leistungsfähigkeit, Kognition, moralisches Empfinden; Allen Buchanan). Diese strategische Betonung des Einzelfalls wirkt wiederum gegenüber dem Optimierungs-Enthusiasmus anderer geradezu nostalgisch (Julian Savulescu, Ingmar Persson). Da also auch bei den Enhancement-Enthusiasten Uneinigkeit besteht, dürfte es durchaus angebracht sein, auch der grundlegenden Skepsis Aufmerksamkeit zu schenken. Weshalb, so fragt Michael Sandel, sollen wir der Versuchung des Enhancement widerstehen?

Das Leben als Geschenk

Ein Faktor, der Sandel gegenüber genetischem Enhancement, über medizinische Therapie hinaus, argwöhnisch macht, ist die Versuchung der Eltern, das Kind im eigenen Bilde zu erschaffen. So richtet er sich gegen das reproduktive Klonen:

„Was genau ist falsch daran, ein Kind zu erschaffen, das ein genetischer Zwilling eines Eternteiles ist, Zwilling eines älteren Geschwisterkindes, das auf tragische Weise ums Leben kam, oder, um auch das anzusprechen, Zwilling eines renommierten Wissenschaftlers, Sport-Stars oder einer anderen Berühmtheit?“ (6 – alle Übers. aus dem englischen Original A.M.)

Doch es geht nicht nur ums Klonen. Durch das Genom-Editing könnten Eltern wiederum ein Kind etwa dem genialen Onkel ähnlicher machen, mit dem sie nie mithalten konnten. Sandel wendet gegen diese Versuche ein, dass sie das Kind um die „offene Zukunft“ berauben, auf die jedes Kind ein Anrecht hat (7).

Das Anrecht des Kindes versteht Sandel jedoch nicht im Sinne einer liberalen Konzeption von Rechten und Privilegien. Die erste Regel der Moral besteht laut Sandel nicht darin, dass alle autonom seien, was ihre eigene Person angeht. In gewissem Maße sei Autonomie eine Illusion, denn ohnehin entscheide niemand über seine genetische Ausstattung oder die Umstände seiner Geburt. Wenn ferner Autonomie der ethische Maßstab wäre, ließe sich nichts einwenden dagegen, für die eigene Person Enhancements zu wählen. Über Sandel hinausgehend – und um eine teils bestehende Technologie spekulativ fortzuspinnen – könnten Eltern sich etwa für eine Genomchirurgie am Embryo entscheiden, die aber erst später mit der Entscheidung des Heranwachsenden aktiviert wird. CRISPR-Cas9-Moleküle, die genetische Modifikationen im Körper vornehmen, könnten erst unter Bestrahlung mit einer bestimmten Lichtfrequenz in Aktion treten. In diesem Science-Fiction-Szenario könnte man etwa dem Kind zum 18. Geburtstag einen Umschlag überreichen, in dem beschrieben wird, wie der nun Volljährige den genetischen Schalter zu einem leistungsfähigeren Gedächtnis umlegt. Doch laut Sandel zeige „unser moralisches Zögern“ das Problem auch eines solchen Autonomie-basierten Vorgehens an (8).

Das Anrecht des Kindes, ja eines jeden Recht, umfasst entschieden das Recht auf bestimmte Grenzen, auf einen gewissen Widerstand in den Verhältnissen, in die unser Leben eingebettet ist. Ein wesentlicher, wenn auch unterschätzter Aspekt des Lebens besteht darin, dass das Leben nicht meinem uneingeschränkten Verfügen gehorcht – obwohl (bzw. da) ich frei bin.

Diese Vorstellung von Leben möchte Sandel jedoch gegenüber zwei extremen Auffassungen von Leben verteidigen. Einerseits möchte er die relative Offenheit des Lebens vor Übergriffen durch das Streben nach „Meisterschaft“ schützen. Andererseits habe der Eingriff der menschlichen Raffinesse durchaus ihren legitimen Ort im Gesundheitswesen. Die Medizin muss die relative Offenheit des menschlichen Lebens gegen die Minderung durch Krankheit und Leid verteidigen.

Der Übergriff von Krankheiten auf das Leben ist kein systemisches, inhärentes Merkmal des Lebens. Dort, wo es so scheint – im fortgeschrittenen Alter – gelangen wir an das Ende des Lebens. Das Leben selbst ist dagegen die Gelegenheit des „gelingenden Lebens“, der Erfüllung und Zufriedenheit – im philosophischen Ausdruck die „Eudämonie“, englisch flourishing, das Sandels Übersetzer mit Gedeihen wiedergibt. Eine Bedingung dessen ist Gesundheit, doch gesund zu sein, heißt noch nicht, ein gelingendes Leben zu führen. Deswegen argumentiert Sandel für eine Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement. Gesundheit ist ein „begrenztes Gut“, in dem es nur um ein beschränktes Tun geht. Gesundheit ist kein unabsehbares, grenzenloses weil maximierendes Tun, das Enhancements umfasst und bei dem daher nach jeder Etappe ein neues Maximierungspotential denkbar wäre. Ein solches Verständnis wäre selbst pathologisch: „Niemand setzt sich das Ziel, ein Virtuose in Sachen Gesundheit zu sein (außer vielleicht der Hypochonder).“ (48)

In einer kritischen Rezension übersieht der Philosoph Tim Lewens diesen Punkt, indem er Sandels Unterscheidung zwischen Heilen und Verbessern reduziert auf eine „schwer fassbare Unterscheidung zwischen solchen Interventionen, die natürliche Fähigkeiten überschreiten [d.h. Enhancements], und solchen, die natürlichen Fähigkeiten zum Gedeihen verhelfen [d.h. Therapie]“. [2] Lewens argumentiert, dass auch eine Therapie natürliche Fähigkeiten ausweitet, die schon beschränkt sind, etwa im Falle einer chronischen Krankheit. Diese Unterscheidung ist in der Tat schwer fassbar (“slippery“, glitschig), aber sie ist nicht der einzige Aspekt, auf dem Sandels Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement beruht. Im Gegensatz zum Enhancement ist Therapie kein „stets eskalierendes“ Unternehmen (Sandel, 49).

Während das Gesundheitswesen das Leben vor dem Übergriff durch Krankheit schützt, muss das Leben außerdem vor menschlichen Übergriffen geschützt werden. Das ist besonders angesichts der Überlegungen zum genetischen Enhancement geboten. Doch ein Übergriff findet bereits dann statt, wenn Eltern zu stark in das Leben ihrer Kinder hineinregieren. Der Vater von Serena und Venus Williams plante die Tennis-Karriere seiner Töchter schon vor ihrer Geburt. Das ist „Hyper-Erziehung“, oder, in Lewens‘ Worten, „Prokrustes-Erziehung“. So ist der Einfluss der Eltern auf ihre Kinder im Allgemeinen keine Rechtfertigung für Gen-Enhancement – als ob wir mit genetischen Mitteln erreichen dürften, was andere Eltern in der Erziehung vollbringen.

Erziehung schlägt leicht in Manipulation um. Sandel dagegen hält das Leben für ein „Geschenk“, das Offenheit für das Unplanbare erfordert. Das wird besonders deutlich bei der Geburt eines Kindes – hier liegt vieles einfach nicht in der eigenen Hand, und das ist gut so. Das „Geschenk“ hat mit einem „Geheimnis“ („mystery“) zu tun, das man weder meistern kann noch soll.

„Das Problem liegt in der Hybris der planenden („designing“) Eltern, in ihrem Drang, das Geheimnis der Geburt zu meistern. Selbst wenn dieser Hang die Eltern nicht gerade zu Tyrannen macht, entstellt es doch die Beziehung zwischen Eltern und Kind und beraubt die Eltern der Demut (“humility“) und des Mitfühlens im weiteren Sinn, die eine Offenheit für das Unerbetene kultivieren kann.“ (46)

Eine Offennheit für das Ungebetene, die Wertschätzung des Geheimnisses und die Entscheidung, nicht mit dem sich entziehenden Faktor im Leben wettzueifern – das sind die grundlegenden Züge in Sandels Lebensverständnis, um die es in der Frage des genetischen Enhancement geht. Für Sandel sind die Vorstellung eines Geschenks sowie die Grenzen, die es aufrichtet, eng mit religiösen Vorstellungen verknüpft: „Der Glaube, dass unsere Talente und unser Vermögen ganz auf unserem eigenen Tun beruhen, ist ein Missverständnis unseres Ortes in der Schöpfung, das unsere Rolle mit der Gottes verwechselt.“ (85)

Obwohl Sandel sein Anliegen gerade in diesen religiösen Passagen unverstellt zum Ausdruck bringt, können auch nicht-religiöse Menschen die freie, unverdiente Gabe des Lebens als Geschenk wertschätzen. So betrachtet Sandel seine Arumentation gegen Enhancement nicht als „unentrinnbar religiös“ (93). Indem wir von der „Gabe“ eines Sportlers oder eines Musikers sprechen, erkennen wir an, dass hier ein grundlegend kontingenter Faktor im Spielt ist. Er beeinflusst nicht nur dieses oder jenes Ereignis, sondern grundiert alles menschliche Leben grundlegend, besonders in seinen tiefgründigen Äußerungen.

Eine Randbemerkung: Prä-normative Grundlagen dessen, was Menschen wertschätzen

Sandel verbringt wenig Zeit mit der Frage, weshalb wir den Geschenk-Charakter des Lebens wertschätzen sollen. Weshalb soll diese Beschreibung des Lebens hier im Zentrum stehen? Laut Sandel verlangt der Geschenk-Charakter des Lebens unsere Achtung, wenn hervorragende menschliche Leistungen und menschliche Werte schon an sich wertvoll sind. Was besondere menschlichen Leistungen so bemerkenswert macht, ist, dass sie uns kostbare Einblicke in jenes Mysterium des Lebens geben, wobei der Charakter des Mysteriums gerade gewahrt bleibt.

Dagegen wäre es durchaus möglich, dass unsere übliche Wertschätzung für das Talent eines Sportlers und die „Gabe“ eines Musikers – die Beispiele, mit denen Sandel sein Anliegen illustriert – lediglich ein Selektionseffekt sind. Bei den besonderen Fähigkeiten von Sportlern und Musikern könnte es sich lediglich um Zufall handeln. Schließlich haben viele andere Menschen ungewöhnliche Eingenschaften, die unsere kulturelle Vorprägung aber nicht als bemerkenswert oder sinnvoll herausfiltert. Wenn dem so ist, sind Konzepte wie Geheimnis und Gabe deutlich weniger geeignet, die moralische Struktur des Lebens zu verstehen. Viele andere Dinge im Leben beruhen auf Zufall, könnten "Geschenk" genannt werden, sind aber trivial und haben keine tiefere Bedeutung für uns. Damit ließe sich hinterfragen, ob die Kontingenzen des Lebens tatsächlich schon an sich wertvoll sind. Was verpflichtet uns eigentlich, das "Geschenk", das "Mysterium" zu achten? Zahlreiche Dinge, die wir gerade nicht als "Mysterium" respektieren und kultivieren, sind ebenfalls nicht notwendig.

Darauf läuft letztlich Tim Lewens‘ Vorschlag hinaus, der jedoch Sandels Konzept der Gabe missversteht. Er meint, die Kontingenz, die Sandel so wichtig ist, zeichne jede Eigenschaft des menschlichen Lebens im allgemeinen aus: „Für Sandel ist gas Leben eine Gabe im phiosophischen Sinn des ‚Gegebenen‘. Das Leben ist das, worin man sich wiederfindet.“ [2] Lewens‘ positivistische Interpretation von Sandels ‚Gabe‘ bezieht sich auf das Triviale und Widrige genaus so wie auf das Sinnvolle und Vorteilhafte. Eigenartigerweise bedeutet die ‚Gabe‘ für Lewens nichts besonders Befriedigendes oder Erfreuliches. Im Gegensatz dazu kommt der geschenkhafte Charakter des Lebens zum Vorschein besonders in Akten des menschlichen Strebens, in hervorragenden Taten und Werten.

Aber weshalb schätzen wir dann diejenigen Dinge, die wir wertschätzen und nicht ganz andere, willkürliche Dinge? Weshalb sollten wir überhaupt meinen, dass sich im Geheimnis in der Kunst und im Sport – und allem voran in der Kindererziehung – etwas wesentliches zeigt, während wir durchaus nicht der Ansicht sind, in willkürlichen Konstellationen der Natur zeige sich etwas besonderes – etwa wenn antike Zivilisationen die Zukunft aus den Eingeweiden der Tiere vorherzusagen versuchten? Weshalb lenkt Sandel den Blick auf das Geschenkhafte in den herausragenden menschlichen Leistungen, anstelle lediglich auf das Kontingente in allen Aspekten des Lebens hinzuweisen, das Kontingente auch in den irrelevanten Dingen, wie wenn jemand an ungeraden Tagen im Durchschnitt morgens den linken Schuh vor dem rechten anzieht? Was unterscheidet hervorragende menschliche Leistungen von solch willkürlichen Dingen, oder sind unsere kulturellen Wertungen selbst willkürlich - Kindererziehung eingeschlossen?

In einer etwas technischeren Passage argumentiert Sandel in der Tat, dass selbst Philosophen der liberalen Tradition – die etwa persönliche Autonomie groß schreibt und zu der sich Sandel nicht zählt – typischerweise Verhältnisse betonen, in die das menschliche Leben schlicht eingebettet ist, ob wir wollen oder nicht. Auch ihnen schwebt eine Ontologie vor, die moralische Werte trägt. Diese Werte entsprechen der Passform des größeren Ganzen, anstelle dass sie lediglich etwas Eigenartiges in einem chaotischen Universum sind, dem sich kein tieferer Sinn zusprechen lässt. Damit wären Werte also etwas eher ‚Objektives‘.

Es lohnt sich allerdings zu bedenken. dass liberale Denker von Locke bis Kant bis hin zu Habermas die Ansicht vertreten, dass Freiheit von einem Ursprung oder einem Standpunkt abhängt, der jenseits unseres Einflusses ist. Nach Locke stehen Leben und Freiheit als unveräußerliche Rechte nicht zu unserer Verfügung (etwa im Suizid oder durch Verkauf der eigenen Person in die Sklaverei). Laut Kant haben wir ebensowenig die Freiheit, uns selbst auszubeuten oder uns selbst als Objekte zu behandeln, wie wir es bei anderen Menschen dürfen, obwohl wir selbst Urheber des moralischen Gesetzes sind. Und für Habermas … hängt unsere Freiheit als ebenbürtige moralische Wesen von einem Ursprung ab, der menschlicher Manipulation oder Kontrolle entzogen ist.“ (94)

Fragen

Was ist von all dem zu halten? Ist Sandels Argumentation für das Mysterium Leben gerade das, was wir in einer Zeit wachsender technischer Möglichkeiten und eines zunehmenden Risikos technologischer Selbstüberschätzung benötigen? Falls ja, liegt nicht eine Ironie darin, dass gerade ein Professor an der Universität Harvard eine eloquente Argumentation gegen das Meistern des Lebens vorlegt? Liegt nicht außerdem bei Sandel ein besorgniserregender Zug vor, wenn er etwa die künstlich erzwungene Meisterschaft etwa bei genetisch geförderten athletischen Hochleistungen mit natürlichem Talent vergleicht?

Das Merkmal hervorragender Leistung besteht zumindest teilweise darin, natürliche Talente und Gaben zur Entfaltung zu bringen, die sich gerade nicht dem Athleten verdanken, der sie besitzt. Für demokratische Gesellschaften ist das unbequem.“ (28)

Sollten wir vielleicht lieber den Aspekt der liberalen Autonomie mit seiner Wertschätzung der Gleichheit weiterverfolgen? Solche Fragen werden Gegenstand späterer Posts sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

Anmerkungen

[1]

Das letzte Votum stammt von Christoph Henning, „Verbesserung des Menschen: Warum, und in welcher Hinsicht? Sechs Bücher zum Perfektionismus“, Philosophische Rundschau 56 (2009): 111–29: 129.


[2]

Stephen S. Hall, “The Red Line“, Scientific American 315 (Sept. 2016), 54-61. doi:10.1038/scientificamerican0916-54. Übers. A. M.

 

[3]

Tim Lewens, “Enhancement and human nature: the case of Sandel”, The Journal of Medical Ethics 35 (2009): 354-356, 355.

 

 

Bildnachweise:

Michael Sandel: Stephanie Mitchell/Asamishkin, Wikimedia Commons

DNA: Pixabay, Publi Domain

"Future": Ltljltlj, Wikimedia Commons

Serena Williams: Edwyn Martinez, WikiPedia

Geschenk: asenat29: gift, flickr

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