Was sind Wunder?
Leitartikel von Hans-Dieter Mutschler
Wunder kennen wir aus der Bibel und aus der religiösen Überlieferung, zumindest meinen wir zu wissen, was ein Wunder ist. Was aber macht sie wirklich aus? Es gibt zwei Fehldeutungen des Wortes ‘Wunder’, die sehr verbreitet sind und sich gegensätzlich wähnen, wo sie doch auf derselben Verwechslung beruhen: Einmal das materialistische, zum anderen das religiös-fundamentalistische Konzept. Beide unterstellen, dass Wunder etwas objektiv Feststellbares sind, wie z.B. eine Sonnenfinsternis oder ein Kanonenknall. Solche Ereignisse sind ja in keiner Weise von meiner ideologischen Voreinstellung abhängig. Wer sie leugnet, wäre ein klinischer Fall. Bei Wundern ist das aber nicht so.
Vorweg zwei konkrete Beispiele:Im Frühjahr 1917 erschien die Jungfrau Maria drei Hirtenkindern auf einem Feld bei Fatima/ Portugal mehrfach. Bei ihrer vorletzten Erscheinung kündigte sie ein Wunder an. Inzwischen hatte sich die Nachricht von diesen Erscheinungen so weit herumgesprochen, dass schliesslich bei der letzten Erscheinung Zehntausende anwesend waren. Sie alle bezeugten, dass vor ihren Augen die Sonne anfing, sich um ihre Achse zu drehen, wie ein Rad aus Feuer. Ein Wunder für die Gläubigen.
Aber was wäre, wenn sich ein Atheist unter die Gläubigen gemischt hätte, wäre er durch dieses Wunder zur Überzeugung gekommen, dass die Jungfrau Maria, also ein transzendentes Wesen, die Sonne in Rotation versetzt habe, da er doch die himmlische Rotation selber gesehen hätte? Ganz sicher nicht! Der Atheist und Skeptiker würde vielmehr eine natürliche Erklärung gesucht haben, wie z.B. eine Massenhysterie, die selbst ihn angesteckt habe oder ein Wirbelsturm in grosser Höhe, der den Brechungsindex der Luft im Sinn einer Rotation verändert habe. Welchen Grund hätte denn ein Atheist, seine am besten bestätigten Überzeugungen zugunsten einer singulären Erfahrung aufzugeben?
Ein weiteres Beispiel: 1858 erschien die Jungfrau Maria dem Hirtenmädchen Bernadette Soubirous in Lourdes in den Pyrenäen. Seitdem entspringt am Ort der Erscheinungen eine Quelle, in der sich kranke Pilger waschen oder baden dürfen. Dabei geschehen immer wieder Spontanheilungen Schwerkranker, die die Wissenschaft nicht erklären kann. Man hat ganz bewusst ungläubige Mediziner damit beauftragt, die Sache zu klären, aber sie stehen oft vor einem Rätsel so, wenn Krebskranke im letzten Stadium plötzlich und dauerhaft gesund werden. Für die Betroffenen ein Wunder. Der atheistisch eingestellte Philosoph Ansgar Beckermann schrieb ein kritisches Buch über den Glauben, in dem er diesem Phänomen der Spontanheilungen nachging (Beckermann 2013, 31). Das Resultat, das durch verlässliche Statistiken untermauert wurde, lautet: Auch in säkularen Kliniken, fernab des christlichen Glaubens, ereignen sich Spontanheilungen und ihre Zahl entspricht, statistisch gesehen, denen in Lourdes.
Hiesse das, dass ich einem schwerkranken Gläubigen eine solche Statistik unter die Nase halten könnte, um ihm zu sagen «Bilde Dir bloss nichts ein, was Du erlebt hast, ist kein Wunder, sondern eine statistische Schwankung!» Würde er diese Deutung auch nur einen Augenblick in Betracht ziehen? Er wäre sich seiner Sache so sicher, wie unser Atheist in Fatima mit der seinigen. Wir sehen also: Wunder sind nicht objektivierbar. Sie bieten sich gegensätzlichen Deutungen an, zwischen denen wir argumentativ nicht entscheiden können. Aber wieso kommen wir dann überhaupt auf die Idee, dass diese Objektivierung möglich sein müsste?
Die Wurzel der Missverständnisse
Die Ursache liegt in einem Verhängnis, das von David Humes Empirismus ausging. Hume definierte das Wunder als ein Durchbrechen der Naturgesetze (Hume 1973, 134) [1]. Wäre diese Definition schlüssig, so liesse sich das Wunder eindeutig feststellen oder auch widerlegen, wenn wir gute Gründe haben, ein solches Durchbrechen der Naturgesetze für unmöglich zu halten. Humes Begriffsbestimmung hat sich bis heute so stark verbreitet, dass man sie sogar bei klugen Wissenschaftstheoretikern, wie z.B. bei Holm Tetens, wiederfindet (Tetens 2015, 8). Aber leider ist diese Bestimmung aus mehreren Gründen extrem schwach.
Zum Einen ist schon gewöhnungsbedürftig, dass Hume überhaupt von einem «Durchbrechen der Naturgesetze» spricht, denn in seinem eigenen Konzept gibt es keine Notwendigkeit der Naturgesetze. Der Kausalnexus beruht in seiner Interpretation nur auf Gewohnheit, so dass er ohnehin nicht streng gilt. Zum Anderen würde seine Begriffsbestimmung voraussetzen, dass wir bereits alle Naturgesetze kennen. Wenn ein absolut genialer Physiker Ende des 19. Jahrhunderts Eigenschaften der Relativitäts- und Quantentheorie wie Längenkontraktionen, Zeitdilatationen, nichtlokale Wechselwirkungen oder die Unschärferelation vorausgesagt hätte, dann hätte man ihn für verrückt erklärt oder diese Phänomene für ein Wunder gehalten. Das Wunder von heute ist die Wissenschaft von morgen, jedenfalls wenn man Hume folgt.
Humes Deutung ist aber auch theologisch desolat. Wenn Gott der Natur bestimmte Gesetzmässigkeiten aufgeprägt hat, sie aber zum Zwecke des Wunders von Zeit zu Zeit willkürlich ausser Kraft setzt, dann ist er ein Spielverderber, der die Regeln ändert, wenn es ihm beliebt. Aber was wäre dann ein Wunder?
Ein Wunder ist ein überraschendes Ereignis, das im Referenzrahmen des Glaubens Sinn macht.
Wunder und Mirakel
Hebt man diesen Referenzrahmen auf, dann bleibt allenfalls ein Mirakel übrig. Sowas hat jeder schon erlebt: Ich befinde mich in einer fremden Stadt in Norddeutschland, wo ich noch nie war und fahre mit der Rolltreppe in den III. Stock, um eine Kravatte zu kaufen. Plötzlich denke ich im zweiten Stock an Herrn XY, den ich sehr lange nicht mehr gesehen habe. Auf der Treppe zum III. Stock fährt er mir plötzlich entgegen, obwohl ich ihn vorher nicht gesehen haben konnte. Wir nennen das ‘Psi-Phänomene’. Sie ereignen sich übrigens öfters, als man denken sollte, wie man herausgefunden hat. Dies wäre das Beispiel für ein Mirakel und gehört in den Bereich der Parapsychologie.
Parapsychologen gehen oft auf Carl-Gustav Jung zurück, der den Begriff der ‘Synchronizität’ eingeführt hat, als einen Gegenbegriff zu ‘Kausalität’, um gewisse akausale Sinnkorrespondenzen zu bezeichnen (Jung/Pauli 1952), wie die genannte. Schon Jung versuchte, aus diesen Sinnkorrespondenzen eine Wissenschaft zu machen, aber der Versuch fiel wenig überzeugend aus. Noch mehr war dies der Fall, als der Psychologe Hans Bender versuchte, die Wissenschaftlichkeit der Parapsychologie zu begründen. Er leitete viele Jahre das von ihm gegründete Institut für Parapsychologie in Freiburg (Bender 2007). Heute führt Walter von Loucadou seine Arbeit fort (Loucadou 1995), wobei er allerdings versucht, solche Phänomene mittels der Quantentheorie zu erklären. Es legt sich allerdings der Verdacht nahe, dass diese Phänomene spontan auftreten, mithin nicht wissenschaftstauglich sind.
Aber sie sind auch nicht religiös anschlussfähig: An meinem 65. Geburtstag kaufte meine Frau besonders teuren Kuchen und ‘Leckerli’. Die Bedienung reichte ihr den Kassenzettel, auf dem geschrieben stand: «65 Franken und 65 Rappen». Sollte ich daraus einen Glaubensakt machen? Welche denkbare Bedeutung könnte diese Entsprechung im Referenzrahmen des Glaubens machen? Wir sollten also Wunder und Mirakel unterscheiden und darauf bestehen, dass das Wunder in religiösen Zusammenhängen des Mirakels nicht notwendigerweise bedarf, sondern höchstens mit ihm verbunden sein kann.
Es kann nämlich etwas ein echtes Wunder in diesem Referenzrahmen sein, was gar keinen mirakulösen Charakter hat: Ich bin verzweifelt und weiss nicht mehr ein noch aus. In dieser Situation treffe ich auf der Strasse zufällig einen alten Bekannten, der mich zum Kaffee einlädt und der meinen Klagen so einfühlsam zuhört, dass es ist, als wäre mir ein Engel begegnet. Betrachte ich es so, dann wird mich jeder Aussenstehende für abergläubisch halten und die Begegnung auf den Zufall zurückführen. Dass der Zufall zugleich das Zufallende ist, kann man ihm nicht ansehen.
Die Ursache des Irrtums
Um die hier vertretene Meinung zu erhärten, wonach der dogmatische Materialismus und der ebenso dogmatische religiöse Fundamentalismus auf demselben Irrtum beruhen, ist die Erinnerung an Antony Flews berühmte ‘Gärtnerparabel’ am Platze: Zwei Forscher treffen im Urwald auf eine Lichtung, die wie ein wohl gepflegter Garten aussieht. Einer der Forscher behauptet, dass Gott diesen Garten angelegt habe, der andere führt seine Wohlordnung auf den Zufall zurück. Sie beschliessen, die Sache wissenschaftlich zu untersuchen und beobachten den ‘Garten’ wechselweise Tag und Nacht, aber es zeigt sich kein Gärtner. Also umzäunen sie das Gelände mit einem elektrisch geladenen Zaun und einer Alarmanlage. Aber die spricht nie an. Der ‘gläubige’ Forscher erfindet immer neue Ausreden, auf welche Art Gott den Garten pflegt, bis es dem Anderen zu viel wird. Er glaubt nicht mehr an den unsichtbaren Gärtner.
Hier haben wir in einem kurzen Text beide Fehlhaltungen beieinander: Sowohl der gläubige, als auch der ungläubige Forscher unterstellen, dass die Wirksamkeit Gottes empirisch testbar sein müsste. Aber die Erfahrungen, aufgrund deren der Gläubige seinen Glauben bestätigt, sind doppelt codiert: Sie bestätigen den Glauben des Gläubigen, aber auch den Unglauben des Ungläubigen. Solche Paradoxien sind übrigens keine Spezialität religiösen Weltverhaltens, sie treten auch in der Diskussion um menschliche Freiheit, in der Leib-Seele-Debatte und sonstwo auf, wie sich noch zeigen wird.
Charakteristischerweise finden wir dieselbe Fehlhaltung mitten in der Kirche: die Heilungswunder in Lourdes werden, wie gesagt, von nichtgläubigen, objektiv eingestellten Medizinern untersucht. Wenn sie vor einem Rätsel stehen, wird die entsprechende Heilung als Wunder eingestuft. Aber damit tappen sie selber in die Falle David Humes, denn was garantiert, dass das, was wir heute nicht erklären können auch morgen unerklärlich bleiben wird?[2] Könnte es vielleicht sein, dass es noch verborgene psychosomatische Zusammenhänge gibt, die machen, dass ein besonders intensiver Wunsch seine positiven Auswirkungen auf die physis des Menschen hat, eine Art Placeboeffekt? Wenn das der Fall wäre, dann könnten wir morgen die Heilungswunder in Lourdes erklären und sie wären nach dem Konzept David Humes keine Wunder mehr.
Wissenschaft und religiöse Deutung
In Wahrheit stehen wissenschaftliche Erklärung und religiöse Deutung ‘senkrecht’ zueinander. Sie sind wie zwei logisch unabhängige Vektoren, die sich nicht ineinander verrechnen lassen. Eine solche, hier vertretene, Auffassung ist übrigens inzwischen bei allen bedeutenden Theologen Konsens; der Text hier beansprucht also keinerlei Originalität.[3]
Verunklärt wird die ganze Diskussion auch durch unsere ständige Neigung alles, was existiert, zweckrational-utilitaristisch zu deuten, wo doch das Neue Testament der anti-Utilitarismus par excellence ist, wie man sich durch Lektüre überzeugen könnte. Ansgar Beckermann argumentiert in dem genannten Buch so: Wenn die Spontanheilungen unter gläubigen Menschen signifikant häufiger wären, als in profanen Kliniken, dann würde er den christlichen Glauben in Betracht ziehen. Aber was würde das wiederum heissen?
Wenn es sich so verhielte, dann gäbe es auf der Welt überhaupt nur noch Christen, denn die Religion erschiene dann als eine Art von transzendenter Lebensversicherung. Wer wäre unter diesen Umständen so dumm, nicht religiös zu sein, wenn es doch nützlich ist? Dann aber wäre der Glaube berechnend. Er wäre kein Freiheitsgeschehen, sondern eine zweckrationale Veranstaltung wie im alten Rom. Mit den römischen Göttern konnte man Handel treiben: «do ut des» d.h., ich bringe den Göttern Opfer dar und sie sind dafür verpflichtet, für meine Gesundheit, für meinen Sieg im Fall des Krieges und für männlichen Nachwuchs zu sorgen: Ein transzendentaler Kuhhandel. Von dieser Art ist das Christentum nicht, obwohl es auch perverse Formen dieser Religion gibt, die dem nahekommen und zwar mitten in der Kirche, namentlich der katholischen.
Dort ist der heilige Antonius für alles zuständig, was uns Sorgen bereitet: habe ich den Schlüssel verloren oder leide ich unter Schwindsucht, so bete ich zum heiligen Antonius. Allerdings muss ich bezahlen. Der heilige Antonius achtet peinlich darauf, dass genügend Geld in der Kasse klingelt, nur dann hilft er. Nachzulesen auf den zahlreichen ex-voto-Tafeln in den Kirchen zu Ehren des heiligen Antonius: «Der heilige Antonius hat geholfen und wird weiter helfen.» Dies ist der Sieg des zweckrationalen Denkens über die Selbstzwecklichkeit des Glaubens. Finsterstes Heidentum.
Diesen Effekt der Pervertierung findet man übrigens auch in anderen Religionen: Der Buddha fegte den ostasiatischen Götterhimmel leer und war genauso antiutilitaristisch eingestellt wie Jesus. Aber auch ihm nützte es nichts. Nach seinem Tod entstand der Mahayanabuddhismus mit seiner abenteuerlichen Mischung aus Buddhismus und Schamanismus. Der Schamane ist ein Heiler, zu dem man pilgert wie zum heiligen Antonius. Auch hier degeneriert die Reinheit des ursprünglichen Buddhismus zur Magie, also zur Instrumentalisierung der Transzendenz.
Der Grund ist durchschaubar: der Mensch ist ein Bedürfniswesen und das Schicksal geht oft ziemlich ruppig mit unseren Bedürfnissen um. Da ist es naheliegend, Gott oder die überweltlichen Götter um Hilfe zu bitten, wenn sie doch alles können. Auf diese Weise verwandelt sich noch die erhabenste Religion in ein Institut zur Befriedigung unserer sehr dieseitigen Bedürfnisse.
Man könnte gegen das Gesagte einwenden, dass dieses Konzept immun ist gegen Widerlegung: Das Wunder lässt sich empirisch nicht überprüfen. Es kann, muss aber nicht mit einem Mirakel verbunden sein und dass es ein überraschendes Ereignis ist, ist ebenso schwammig und nichtssagend: Was des Einen Überraschung, ist des Anderen Trivialität. Überraschend ist für mich das Neue, Unerwartete. Den Kenner des entsprechenden Sachverhalts überrascht nichts mehr. Mich überrascht eine Sonnenfinsternis, den Astronomen nicht.[4]
Man kann ohne Weiteres zugeben, dass unsere Interpretation des Wunders seine Überprüfbarkeit ausschliesst, aber das gilt auch in anderen Fällen, die mit Religion nichts zu tun haben. Es handelt sich um ein ganz gewöhnliches Phänomen. Nicht alles, was existiert, zeigt sich im Experiment.
Das Beispiel der Freiheit
Wir könnten die Frage nach dem Wunder auf die nach der menschlichen Freiheit abbilden. Auch Freiheit ist kein empirisches Datum. Kant hat das so ausgedrückt: «Du kannst, denn Du sollst.»[5] Das heisst: Freiheit ist uns nicht unmittelbar gegeben, sondern sie wird erschlossen und zwar aus der Erfahrung des Sollens, das nur unter Voraussetzung menschlicher Freiheit Sinn macht.
So, wie man versucht hat, das Wunder empirisch dingfest zu machen, so hat man das auch mit menschlicher Freiheit versucht, z.B. in den berühmten Libetexperimenten (Libet in: Geyer 2004, 268-289). Danach wurden Probanden gebeten, entweder den rechten oder den linken Arm zu heben, aber ohne vorgängige Reflexion, einfach spontan, so wie der Willensimpuls in ihnen emporstieg. Dabei zeigte es sich, dass das Gehirn ein Bereitschaftspotential für den rechten oder linken Arm aufbaut, bevor der Proband den Impuls zum Heben des entsprechenden Armes verspürte. Dieser Versuch wurde seither unter verschärften Bedingungen wiederholt, aber das Resultat blieb das gleiche. Heisst das, dass uns das Gehirn steuert und dass unsere vorgebliche Willensfreiheit eine Illusion ist, wie viele vermutet haben?
Der Versuch, Freiheit operationalisierbar zu machen, bringt sie zum Verschwinden, denn Freiheitsgeschehen ist kein empirisches Datum. Zunächst einmal gibt es kein Freiheitsgeschehen ohne vorgängige Reflexion. Sodann kann diese Reflexion oft Monate oder Jahre benötigen, wenn es darum geht, die eigenen Präferenzen neu festzulegen, was eigentlich der Sinn menschlicher Freiheit ist und dann: Körperbewegungen sind überhaupt keine Handlungen, wie der Philosoph Edmund Runggaldier deutlich gemacht hat (Runggaldier 1996). Erst eine mit einer Absicht ausgeführte Körperbewegung ist eine Handlung. Aber das hatte Libet von vornherein ausgeschlossen.
Wir haben also einen analogen Fall zu dem, was oben über das Wunder gesagt wurde: Freiheit ist eine transzendentale, nichtempirische Bestimmung des Menschen im Sinne Kants. Sie ist deshalb der experimentellen Überprüfung nicht zugänglich und wenn man es dennoch versucht, wird sie unkenntlich, denn sie ist kein objektives Datum, sondern ausschliesslich zugänglich in der ersten Personperspektive.
Abschließende Betrachtung
Solche Ausschliesslichkeitsverhältnisse gibt es viele, deren Sinn unkenntlich wird, wenn man sie dem naturwissenschaftlichen Objektivierungsverfahren unterwirft. Dazu gehören z.B. die Erlebnisqualitäten (Mutschler 2018), oder die Differenz zwischen dem ‘Reich der Ursachen’ und dem ‘Reich der Gründe’. Wenn ich Gründe für mein Handeln oder Erkennen angebe, so lassen sich diese Gründe neurowissenschaftlich nicht zur Geltung bringen. Versuche ich es dennoch, dann verschwinden sie vor meinem Blick.
Aber wenn solche Ausschliesslichkeitsverhältnisse überall auftauchen (es gäbe noch viele andere Beispiele) und wenn dabei die jeweils ‘höhere’ Ebene sich der Objektivierung entzieht und verschwindet, wenn man es dennoch versucht, warum sollte es dann erstaunlich sein, wenn derselbe Effekt in religiösen Zusammenhängen auftritt?
Wenn man die Existenz Gottes mit Antony Flew aufgrund ihres nichtempirischen Charakters bestreitet, dann könnten wir mit demselben Recht menschliche Freiheit und Vernunft (als das Vermögen der Begründung) bestreiten, d.h. wir könnten nicht nur Gott, sondern mit demselben Argument auch gleich noch den Menschen abschaffen. Aber wenn wir das nicht wollen, dann sollten wir die Möglichkeit der Existenz Gottes zulassen. Vielleicht sieht der Gläubige in dem, was er ‘Wunder’ nennt, etwas Reales.
Hans-Dieter Mutschler
Veröffentlicht im Februar 2022
Anmerkungen
[1] Hume lehnt aufgrund seiner eigenen Definition Wunder ab. Die Gesetze der Natur können nicht aufgehoben werden.
[2] Diese Falle hängt mit den Engführungen der katholischen Theologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen, wo man Humes Bestimmung sogar innertheologisch akzeptierte. Darüber ist die heutige Theologie hinweg.
[3] So z.B. Pannenberg 1991, 60-62; Rahner 1976, 252-260. Eine gute, knappe Zusammenfassung findet sich bei Siegfried Wiedenhofer 2001, 1315-1318. Immer noch lesenswert ist die Dissertation meines Lehrers Béla Weissmahr 1973.
[4] Weil das Wunder so schwer fassbar ist, haben es manche wie Imbach 2002 völlig trivialisiert. Es sei lediglich ein symbolischer Ausdruck, den man ohne Substanzverlust auch weglassen könne.
[5] Der Satz scheint von Schiller, nicht von Kant zu stammen, er drückt aber dessen Überzeugung getreulich aus.
Literatur
Beckermann, Ansgar: Glaube, Berlin 2013
Bender, Hans: Aufsätze zur Parapsychologie, Freiburg 2007
Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1973
Imbach, Josef: Wunder. Eine existenzielle Auslegung, Würzburg 2002
Jung, Carl-Gustav/ Pauli, Wolfgang: Naturerklärung und Psyche, Zürich 1952
Libet, Benjamin: Haben wir einen freien Willen?, in: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt 2004
Loucadou, Walter von: Psyche und Chaos. Theorien der Parapsychologie, Frankfurt 1995
Mutschler, Hans-Dieter: Bewusstsein. Was ist das? Leipzig 2018
Pannenberg, Wolfhart: Systematische Theologie Bd. II, Göttingen 1991
Rahner, Karl: Grundkurs des Glaubens, Freiburg 1976
Runggaldier, Edmund: Was sind Handlungen? Eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Naturalismus, Stuttgart 1996
Tetens, Holm: Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015
Weissmahr, Béla: Gottes Wirken in der Welt: ein Diskussionsbeitrag zur Frage der Evolution und des Wunders, Frankfurt 1973
Wiedenhofer, Siegfried: Stichwort ‘Wunder’ im Lexikon für Theologie und Kirche Bd.X, 1315-1318, Freiburg 2001
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