Künstliche Intelligenzverstärkung – Wie die KI unser Leben verändert
Leitartikel von Thomas Ramge
Alle reden über Künstliche Intelligenz. Der Begriff klingt groß. Manchmal macht er Angst, dass Maschinen bald schlauer sind als Menschen. Aber was ist KI eigentlich? Technisch gesehen sind KI-Systeme aus Daten lernende Systeme. Der Mensch programmiert nicht mehr wie bei klassischer IT sein Wissen in Computer hinein. Er schafft eine Lernumgebung, in denen Algorithmen ähnlich wie wir Menschen aus Beispielen lernen. Durch diesen Technologiesprung können Maschinen heute vieles, was früher nun Menschen konnten. Zum Beispiel Gesichter erkennen, Autofahren oder Krebs erkennen. Die KI-Systeme der neuesten Generation, beispielsweise große Sprachmodelle wie ChatGPT, beherrschen nun auch menschliche Sprache. Das ist alles sehr beeindruckend. Aber dennoch bleiben Künstliche Intelligenzen Werkzeuge von Menschen für Menschen. Sie ersetzen in der Regel keine Menschen, sondern werden zunehmend zu Ko-Piloten und Sparringspartnern. Und im Idealfall sind sie Verstärker menschlicher Intelligenz.
Ein Gedankenexperiment: Sie möchten ein mittelständisches Unternehmen gründen, das hochprofitabel ist und keine Mitarbeiter hat. Sie selbst möchten aber auch möglichst wenig arbeiten, sondern die Geschäftsführung an einen künstlich intelligenten Robo-Manager delegieren. Mit heute verfügbarer Technologie ist eine vollautomatische Firma möglich. Sie könnten beispielsweise einen automatisierten Online-Shop für ein nicht-verderbliches Konsumgut mit hoher Marge und begrenztem Sortiment gründen. Nehmen wir einen Parfümshop auf Shopify, Amazon Marketplace oder eBay. Aufbau und Prozesse könnten in etwa wie folgt aussehen:
Ein Bot, konstruiert aus selbstlernen Algorithmen, durchsucht andere Online-Händler. Er analysiert deren Sortiment, Preise, Kundenbewertungen und Abverkaufsrankings und stellt hieraus ein Sortiment für den eigenen Shop zusammen. Die Firma schließt Lieferverträge mit mehreren Großhändlern. Das muss Stand heute noch der menschliche Gründer machen, aber ist die Geschäftsbeziehung einmal etabliert, kann dann der Robo-Manager immer dort bestellen, wo die Konditionen am günstigsten sind. Neue Markttrends behält er im Auge. Die Firma investiert in ein vollautomatisiertes Lager und Logistikzentrum. Die Fahrer der Lieferanten müssen die angelieferten Paletten von Verpackungsmaterial befreien und an der Laderampe so positionieren, dass Lagerroboter die Waren greifen und in die Regale einlagern können. Sie erkennen die Waren an NFC-Labels, kontrollieren aber auch nochmal mit KI-Bilderkennung.
Ein Marketing-Bot wird mit einem Startbudget ausgestattet und mit den gängigen Online-Marketing-Kanälen verknüpft. ChatGPT textet Beschreibungen im Shop und die Anzeigen angepasst an die Zielgruppe und verknüpft sie mit den Produktbildern. Der Marketing-Bot beginnt mit Tests und optimierte seine Konversionsrate dank Maschinellem Lernen fortlaufend. ChatGPT beantwortet selbstverständlich auch die Kundenanfragen. Die Bestellungen und Zahlungsabwicklung laufen bei den meisten Onlineshops ohnehin schon automatisiert ab. Wie in jeder guten Unternehmensplanungssoftware sind Buchhaltung und die steuerliche Verarbeitung ebenfalls digitale Routine. Roboter wie jene vom Amazon-System Kiva sammeln die Produkte der einzelnen Bestellungen zusammen und bringen sie zu Verpackungsrobotern, welche die Pakete für das Versenden samt Paketaufkleber fertigmachen. Die Mitarbeiter des Paketdienstleisters holen die Pakete an der Laderampe ab.
Bis der Shop läuft braucht es Stand heute noch menschliche Intelligenz und handwerkliches Geschick. Doch sind die Prozesse einmal etabliert und eingespielt, bleibt von einem klassischen Unternehmen, also einer Organisation, in der Führungskräfte Mitarbeiter in einem Wertschöpfungsprozess anleiten, nur noch eine juristische Hülle. In dieser Hülle arbeiten keine Menschen mehr, sondern ein geschäftsführender Roboter schöpft mit minimalem Kontrollaufwand den Mehrwert aus automatisierter Arbeit ab. Das Modell lässt sich, rein technisch, auf immer mehr Branchen und Bereiche übertragen. Ein Fast-Food-Restaurant, ein Shampoo-Hersteller, eine Robo-Taxi-Flotte oder ein U-Bahn-Betreiber. Braucht es für diese Geschäftsmodelle künftig noch Menschen? Oder zumindest sehr viel weniger als heute?
Automatisierung im Kriechgang
Einen Teil unseres Sinns im Leben schöpfen wir aus Arbeit. Gut geführte Unternehmen sind lebendige Organismen. Sie schaffen materielle Werte und erfüllen zugleich für die Mitarbeiter soziale Funktionen. Den meisten Menschen, zumal jene in Personalfunktionen, werden menschenlose Unternehmen kaum als wünschenswertes Zukunftsbild sehen. Das ist verständlich und die gute Nachricht nicht nur, aber besonders für die Human Resources-Branche lautet: Es gibt keinen Online-Shop wie jenen aus dem Gedankenexperiment. Rein technisch wäre er wohl möglich. In der Praxis würde er wohl an Tausend Kleinigkeiten scheitern, weil Technik eben doch nicht so perfekt ist, wie von KI- und Robotik-Herstellern behauptet und es immer wieder menschliche Kreativität und Flexibilität braucht, um das System am Laufen zu halten. Das Experiment taugt eher zur Metapher, die den Status quo der Automatisierung umfassend spiegelt. Es scheint als wäre so viel möglich. Die Realität sieht anders aus.
Regelmäßig behaupten Theoretiker und Praktiker, dass sich das Verhältnis von Menschen und intelligenten Maschinen alsbald grundlegend ändert. Von dem einen Lager wird die kommende Veränderung optimistisch begrüßt, verbunden mit der Hoffnung, dass die KI und cleveren Roboter uns alsbald die langweiligen Routinearbeiten abnehmen werden und wir Menschen uns auf kreative und empathische Arbeiten konzentrieren können. Dabei werden zwar alte Berufe wegfallen, aber neue, bessere entstehen. Die Pessimisten fürchten durch Automatisierung neue Wellen der Massenarbeitslosigkeit und noch mehr Ungleichheit, vor allem wenn nun nicht nur physische Roboter körperliche Arbeit dem Menschen abnehmen, sondern aus Daten lernende Systeme jenen Teil der Wissensarbeit erledigen, die aus Routinen bestehen, also aus Wiederholungen ähnlicher Aufgaben oder Abläufe. Und dann passiert wenig.
Die Serie an Spiegel-Covern über die Jahrzehnte, in denen Roboter und Künstliche Intelligenzen Arbeiter, Angestellte und Manager rausschmeißen, dürfen bei keinem Trendvortrag zur Zukunft der Arbeit fehlen. Zur Arbeitslosenquote in Deutschland passen die bedrohlichen Cover seit spätestens den 1990er Jahren nicht mehr. 2016 kündete der datenfanatische Hedgefond-Gründer Ray Dalio großspurig an, dass bei Bridgewaters Associates künftig ein Roboboss über „Hiring“ und „Firing“ und strategische Unternehmensziele entscheide. Dafür warb Dalio einen der damals interessantesten KI-Wissenschaftler an, den Chefentwickler von IBM Watson David Ferucci. Seitdem hat man über weder von Ferucci noch von dem KI-Entscheidungs-System viel gehört. Aber sollte der Roboboss bei Bridgewaters tatsächlich über Einstellungen und Entlassungen entscheiden, scheint das System menschliche Intelligenz zu schätzen. Die Mitarbeiterzahl steigt stetig. Und dann wäre da noch die wissenschaftliche Blockbuster-Studie Carl Frey und Michael Osborne mit Titel „The Future of Employment. How Susceptible Are Jobs to Computerization?“ Sie ist vor ziemlich genau zehn Jahren erschienen und sagte voraus: Knapp die Hälfte aller Tätigkeiten der US-amerikanischen Mitarbeiter quer durch alle Branchen können in den kommenden „ein bis zwei Dekaden“ wegautomatisiert werden. Die Studie wurde weit mehr als 10.000-mal wissenschaftlich zitiert, und wohl noch deutlich öfter auf Tech-Konferenzen, politischen Zirkeln und auf Vorstandsitzungen. Gewerkschafter und Arbeits- und Sozialpolitiker in aller Welt diskutierten Frey und Osborns Prognosen mit tiefen Sorgenfalten im Gesicht. KI-Anbieter und -Berater lasen sie als Qualitätssiegel und bauten die Kernaussagen der Studie in ihre Verkaufspräsentationen ein. Doch die Rechnung ging weder für die politischen Schwarzmaler auf noch für potenziellen wirtschaftlichen Profiteure.
Im Frühjahr 2023 gibt es auf dem US-amerikanischen Arbeitsmarkt rund zehn Millionen offene Stellen bei rund fünf Millionen Erwerbslosen. Die Arbeitslosenquote ist mit rund 3,5 Prozent auf dem niedrigsten Stand seit 1970. Theorie und Empirie der Automatisierung passen nicht zusammen. Die technischen Möglichkeiten sind vorhanden. Aber die einzelnen Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes tun sich schwer, Automatisierung aus dem Kriechgang zu holen. Wie kommt es zu dieser Kluft zwischen technologischer Behauptung und realwirtschaftlicher Umsetzung?
Die erste naheliegende Antwort lautet: Die Systeme funktionieren nicht so gut, wie ihre Entwickler versprechen. Diese Lesart wäre nicht neu, sondern begleitet Künstliche Intelligenz von ihren Anfängen; und dies im sehr wörtlichen Sinne. Der Begriff „Künstliche Intelligenz“ wurde für Marketing-Zwecke geboren. Die Organisatoren der berühmten Dartmouth Konferenz im Jahr 1956 suchten für ihren Förderantrag bei der Rockefeller-Stiftung nach einem eingängigen Schlagwort, um den Geldgeber für sich zu gewinnen. Der schon damals sehr gängige Begriff „Maschinelles Lernen“ erschien ihnen nicht sexy genug. „Künstliche Intelligenz“ war das größtmögliche Versprechen, das die Pioniere der KI den Maschinen zuschreiben konnten. Der Trick gelang bei der Rockefeller-Stiftung. Er funktioniert heute nach wie vor sehr gut, wenn Budgets zu holen sind: bei Forschungspolitikern und Risikokapitalgebern, bei Topmanagern und IT-Einkäufern. Den Versprechen der Verkäufer folgt, auch das ist nicht neu, oft die Enttäuschung der Kunden und Anwender. Weil Technologie ihre Probleme nicht löst, so die erste Lesart, rückbesinnen die Unternehmen sich auf menschliche Intelligenz und Handarbeit. Manche Systeme sorgen gar für mehr menschliche Arbeit, weil sie mehr Verwirrung stiften als Nutzen.
Eine zweite häufige Deutung ist ebenfalls naheliegend: Wir haben ein Umsetzungsproblem. Verfügbare Automatisierungs-Technologie mag nicht ganz so gut sein wie von den Anbietern behauptet. Aber sie könnte viel mehr Wirkung entfalten, wenn wir sie in Unternehmen und öffentlichem Sektor im Zuge digitaler Transformation konsequent angingen. Im Klartext hieße das: Wir heben das Potenzial von ziemlich intelligenten Systemen als einzelne Unternehmen und Gesellschaft nicht, weil wir es entweder gar nicht wollen oder schlicht unfähig sind, das Beste aus der Technologie für Wertschöpfung und bessere Arbeit herauszuholen. Psychologen würden dies wohl eine menschliche Selbstlimitation im Umgang mit Künstlicher Intelligenz nennen. Deutung eins und zwei schließen sich natürlich nicht aus, sondern können sich gegenseitig verstärken. Sie haben zudem eins gemeinsam: Sie gründen auf einer Mensch-gegen-Maschine-Logik. Genau hier liegt der eigentliche Logikfehler, der sich gerade im Zuge der rasanten Entwicklung rund um ChatGPT und ähnliche große Sprachmodelle verstetigt.
Wieder heißt es: Maschinen werden Menschen ersetzen. Bei Osborne und Frey waren es LKW-Fahrer und Lageristen, Radiologen und Buchhalter. Heute sind es angeblich Anwälte und Werbetexter, Programmierer und Callcenter-Mitarbeiter. Niemand kennt die Zukunft. Natürlich ist es theoretisch möglich, dass diesmal KI-Systeme tatsächlich Menschen massenhaft die Jobs rauben und es für die Menschen dann vorerst auch keine Arbeit mehr gibt, weil „generative Künstliche Intelligenz“ dem Menschen in zu vielen Belangen überlegen ist. Dann wären vollautomatisierte Unternehmen in der Tat vermutlich bald kein Gedankenexperiment mehr, sondern die Regel. Aber ist eine solche Zukunft wahrscheinlich? Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Plausibler ist eine dritte Möglichkeit, die Kluft zwischen angekündigter zu tatsächlicher Automatisierung zu erklären. Auch die ist eigentlich naheliegend, findet aber in den hitzigen Debatten über die Allmacht der Maschinen kaum Beachtung. Automatisierung ist kein disruptiver Prozess, wie vom Silicon Valley und seinen angeschlossenen Anstalten immer wieder verkündet, sondern ein schleichender. In diesem Prozess werden selten Menschen ersetzt und oft menschliche Fähigkeiten verstärkt.
Digitale Ko-Piloten und Augmented Intelligence
Die early adopters neuer Technologien am Arbeitsplatz sind oft jene, die neue Technologien schaffen. Vor zwei Jahren führte Microsoft auf seiner Plattform für Open-Source-Software namens GitHub ein Werkzeug mit dem sprechenden Namen „Copilot“ ein. Die Technologie hinter dem Ko-Piloten kam von Open-AI, also genau jener Microsoft-Beteiligung, die nun mit ChatGPT Furore macht. Sie funktioniert auch nach dem gleichen Prinzip, wie ChatGPT Entwürfe für Emails schreibt. GitHub-Copilot macht den Programmierern Vorschläge, mit welchem Code sie häufig vorkommende Programm-Aufgaben schnell, unkompliziert und zuverlässig lösen können. Der Dienst kostet. Die zahlenden Programmierer delegieren dann knapp 40 Prozent ihrer Codezeilen an das clevere Assistenztool. Die Maschine macht einen Vorschlag. Der Mensch schaut drauf, testet kurz, und wenn der Vorschlag tauglich erscheint, akzeptiert er mit einem Klick. Mit diesem Vorschlags-Verfahren verdoppeln Programmierer laut GitHub ihre Produktivität. Amazon zog kurze Zeit später mit einem ähnlichen Werkzeug namens CodeWhisperer nach. Programmierer im Alphabet-Konzern nutzen, so drang es kürzlich nach außen, das interne Assistenztool PitchFork. Die Ko-Piloten für Programmierer taugen viel besser zur Vorausdeutung auf die Zukunft der Arbeit mit KI als das Gedankenexperiment des Online-Shops ohne Menschen. Sie machen Wissensarbeiter produktiver. Da es viel zu wenige Programmierer gibt, stehen auch nicht plötzlich Programmierer bei den Arbeitsagenturen Schlange.
„Unsere Vision ist eine Welt, in der jeder, egal in welchem Beruf, einen Ko-Piloten für alles haben kann, was er macht.“ Der Satz stammt von Microsoft-Chef Satya Nadella. Er sagte ihn im Mai 2022. Außer den Programmierern auf GitHub konnte sich damals kaum jemand etwas vorstellen. Wenige Monate später schaltete nicht nur Microsoft in seiner Business-Software nach und nach Ko-Piloten-Funktionen frei, die für die lästigen Standard-Routinen des Büroprozess-Alltags nützliche Assistenzdienste leisten. Mit rasender Geschwindigkeit entstehen gerade Startups, die das Versprechen der „Office Process Automation“ angehen und mithilfe von Künstlicher Vorschlagsintelligenz endlich Software anbieten, die den Nutzern wirklich nützen und nicht noch mehr Arbeit machen, als sie in ihren SAP-Systemen schon vorher hatten. Eines dieser Startups heißt Adept, gegründet von ehemaligen Angestellten von Deepmind, OpenAI und Google.
Auf der banalen Ebene beschleunigt die neue Generation von Ko-Piloten Reisekostenabrechnungen zu genehmigen oder Spreadsheets aufzusetzen und zu durchforsten. Die Assistenz-Kompetenz wächst jedoch rasant. Von zeitraubenden Recherchen im Netz über Lieferkettenmanagement bis hin zur Budgetplanung werden Ko-Piloten immer öfter jene Vorarbeiten leisten, die uns Menschen so viel Zeit und Energie rauben, wenn wir sie nicht an zuverlässige, motivierte und clevere Assistenten aus Fleisch und Blut delegieren können. Letztere sind bekanntlich schwer zu finden. Im Unterschied zu digitalen Ko-Piloten skalieren sie auch nicht. Derweil stellen die KI-Assistenten eine Anforderung an uns, die wir uns zunehmend aneignen müssen. Im Techie-Fachjargon heißt diese Fähigkeit „Prompting“. Die wörtliche Übersetzung „Auffordern“ weist in die richtige Richtung, greift aber etwas kurz. „Prompting“ ist die menschliche Kompetenz, eine Künstliche Intelligenz so zu nutzen, dass sie uns Menschen wirklich nützt. Wie im Tanzkurs ist Auffordern keine einfache Angelegenheit. Auf die Nuancen kommt es an. Wer die Feinheiten beherrscht ist gegenüber jenen im Vorteil, die sie nicht beherrschen. Mit der richtigen Aufforderung ermöglicht die Künstliche Intelligenz dem Menschen, was der US-amerikanische KI-Pionier Douglas Engelhardt bereits in den 1960er Jahren „Augmented Intelligence“ genannt hat: Intelligenzverstärkung. Das technik-soziologische Paradigma dahinter lautet nicht „Mensch gegen Maschine“, sondern „Mensch mit Maschine“.
Wer sind wir?
Der jüngste KI-Euphorie wurde ausgelöst durch die Innovation der großen Sprachmodelle. Die Grundidee hinter dem technischen Ansatz ist einfach und mehrere Jahrzehnte alt. Ein Sprachmodell sagt voraus, welches Wort in einem Satz in einem gegebenen Kontext mit höchster Wahrscheinlichkeit folgt. Dieses Wort fügt es dann an. Die beeindruckende Sprachkompetenz der großen Sprachmodelle vom Schlage ChatGPT erwächst aus der gigantischen Menge an Texten, die ihnen eingefüttert wurden. Die neuesten großen Sprachmodelle haben nahezu das gesamte Internet gelesen und viele Millionen digitalisierte Bücher „gelesen“. Das in den Texten gespeicherte Wissen machen sie uns Menschen über die eingebaute Wahrscheinlichkeitsrechnung zugänglich, in dem es uns nicht wie eine klassische Google-Anfrage nur Textauszüge oder Zahlen heraussucht, die wir dann selbst sondieren müssen. ChatGPT et al. geben kontextualisiert Antworten im Sinne einer Durchschnittsbetrachtung, die sie aus den Lerndaten errechnet. Was die Fakten angeht, sind diese Antworten oft noch fehleranfällig. Auch fehlen ihnen oft die Nuancen, die wir bei einem klugen menschlichen Gesprächspartner schätzen. Doch zumindest in der Annäherung leisten große Sprachmodelle schon im heutigen Entwicklungszustand etwas, das vor einigen Jahren noch Science-Fiction war: Sie geben uns Zugang zum Erfahrungsschatz der Menschheit.
Große Sprachmodelle ziehen Analogien. Wenn wir mit ihnen ins Gespräch gehen und gut zuhören, lernen wir, was andere gelernt (und aufgeschrieben) haben. Die KI gibt uns Hinweise, was andere vor uns in ähnlicher Situation gedacht haben und wie sie ähnliche Aufgaben erledigt oder Probleme gelöst haben. Aus dem technischen Ansatz des „Maschinellen Lernen“ werden durch große Sprachmodelle KI-Systeme zu Lernmaschinen für Menschen. In ihrem Wesen sind große Sprachmodelle also keine Automatisierungstools wie Roboter, die Autos besser, schneller und günstiger Zusammenschweißen als die besten Facharbeiter. Sie sind Sparringpartner mit sehr viel Weltwissen. Hierin liegt das eigentliche Potenzial der neuesten KI-Generation und das macht sie so wertvoll für den Einsatz in allen Tätigkeitsfeldern der Wissensarbeit. Doch zugleich, und das ist die zweite gute Nachricht für alle, die keine menschenleeren Unternehmen mögen, liegt in dem technischen Ansatz die Grenze, was die neuen KI-Systeme leisten können – und was eben nicht. Im datenfreien Raum ist auch die cleverste und beeindruckendste Künstliche Intelligenz aufgeschmissen. Ihre Kompetenz endet, wo sie keine Analogien mehr ziehen kann, weil es keine Fallbeispiele zur Rate ziehen kann. Das unterscheidet sie von uns Menschen.
Der Entwickler der Künstlichen Intelligenz im Allgemeinen und der großen Sprachmodelle im Besonderen haben in den letzten Jahren nicht nur eine große technische Leistung erbracht, sondern auch eine sozialpsychologische. Ihre beeindruckenden Systeme zwingen uns Menschen dazu, uns zu fragen, wer wir sind und was uns besonders macht. Der Kognitionswissenschaftler Jean Piaget hat menschliche Intelligenz wie folgt definiert: „Intelligenz ist die Fähigkeit herauszufinden, was zu tun ist, wenn wir nicht wissen, was zu tun ist.“ Arbeit ist im Wortsinn komplex. Das bedeutet, dass ständig neue Situationen entstehen, die es genauso noch nie gab. Die Welt der Arbeit, im Großen wie im Kleinen, ist weder vorherseh- noch berechenbar. Wenn wir als Menschen neues Terrain betreten, werden wir kreativ. Wir entwickeln Modelle, die Zukunft beschreiben können. Wir erdenken uns Szenarien, die es noch nicht gibt. Wir projizieren uns in diese Szenarien und überlegen, welche von ihnen wünschenswert sind und welche nicht. Wir ziehen hieraus Schlussfolgerungen, auf die vor uns noch niemand gekommen ist, und zwar nicht, weil niemand anderes darauf hätte kommen können, sondern weil noch niemand in genau dieser Situation war. Das Leben in Unternehmen ist Fußball, nicht Schach. Es ist ein Mannschaftssport und man kann auch nicht durch Mathematik gewinnen. Die Vielfalt der menschlichen Aufgaben, Ziele und Entscheidungen in den meisten Unternehmen ist um Zehnerpotenzen größer als in einem Online-Shop mit kleinem Sortiment, sagen wir für Parfums. Wenn es eines Tages tatsächlich eine vollautomatische Organisation ohne Menschen geben sollte, können wir guten Gewissens dort bestellen. Die Menschen, die dort dann nicht mehr arbeiten, haben Besseres zu tun. Und falls sie es nicht wissen, werden ihnen Personalentwickler helfen, die Künstliche Intelligenzen als Ko-Piloten und Sparringspartner nutzen.
Thomas Ramge
Publiziert im April 2024
Dr. Thomas Ramge ist Sachbuchautor, Keynote-Speaker und forscht am Einstein Center Digital Future zu Künstlicher Intelligenz. Zu KI erschienen von ihm u.a. im Reclam-Verlag „Mensch und Maschine – Wie Künstliche Intelligenz und Robotik unser Leben verändern“ und „Augmented Intelligence – Wie wir mit Daten und KI besser entscheiden“.
Bildnachweis
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Cover Thomas Ramge, Mensch und Maschine
Cover Thomas Ramge, Augmented Intelligence
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Künstliche Intelligenz als Verstärker?
In seinem Leitartikel stellt Thomas Ramge dar, dass wir uns vor KI nicht fürchten müssen, sondern sie nutzen können. Was meinen Sie?
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