Ganzheitliche Wirklichkeitserkenntnis
Leitartikel von Matthias Haudel
Die Lebenswirklichkeit des Menschen ist vielschichtig und in unterschiedliche Erfahrungsdimensionen eingebunden. Damit geht die existenzielle Suche nach sinnvoller Ganzheit der verschiedenen lebensweltlichen Zusammenhänge einher. Diesem Grundbedürfnis nach ganzheitlicher Wirklichkeitserkenntnis kann der Dialog von Theologie und Naturwissenschaft maßgeblich dienen, indem er ein ganzheitliches Wirklichkeitsverständnis ermöglicht.
Sowohl die Theologie als auch die Naturwissenschaften sind auf den Dialog verwiesen, denn sie richten sich jeweils aus ihrer Perspektive und mit ihren Methoden auf die eine Wirklichkeit des Menschen. Entsprechend bleiben sie in den gemeinsamen lebensweltlichen Gesamtkontext eingebunden. Für die Theologie ist der Dialogbedarf wesensmäßig, weil sie Gott als „die Alles bestimmende Wirklichkeit“ (Rudolf Bultmann) bekennt. Von daher ergibt sich die Notwendigkeit, mit den verschiedenen Formen der Wirklichkeitserkenntnis in Dialog zu treten. Aufgrund des stark naturwissenschaftlich geprägten modernen Welt- und Selbstverständnisses ist der Dialog mit der Naturwissenschaft besonders wichtig für die Theologie, um die Bedeutung des Glaubens für die gesamte Wirklichkeit erweisen zu können. Der modernen Naturwissenschaft drängt sich der Dialog ebenfalls auf, insofern als sie im Unterschied zum statischen und geschlossenen naturwissenschaftlichen Weltbild des 19. Jahrhunderts von Dynamik und Offenheit geprägt ist. Mit den naturwissenschaftlichen Umbrüchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts traten die Grenzen naturwissenschaftlicher Methoden und die Vielschichtigkeit von Wirklichkeitserkenntnis deutlich ins Bewusstsein und die Naturwissenschaft gelangte – etwa im Bereich der Quantenphysik – selbst an die Grenzen transzendenter Dimensionen. Zudem trat die weltanschauliche Eingebundenheit der Naturwissenschaften zunehmend hervor. Auch die Vermittlung der Relevanz naturwissenschaftlicher Erkenntnisse für die Lebenswirklichkeit bedarf unweigerlich des Dialogs mit den anderen Dimensionen der Lebenswelt. Für die ganzheitliche Einbindung und Sinndeutung naturwissenschaftlicher Einsichten bietet sich besonders der Dialog mit der Theologie an, die mit dem Ganzen der Wirklichkeit befasst ist. Dieser Dialog drängt sich ferner durch die ständig neuen ethischen Herausforderungen auf, die der rasante naturwissenschaftliche und technische Fortschritt mit sich bringt. Hier bestehen gesamtgesellschaftliche und globale Anforderungen im Blick auf Fragen des Lebens und Überlebens, die eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses bedürfen, in dem besonders Philosophie und Theologie Orientierung bieten können. (Siehe ausführlich Haudel 2021, Kapitel I.) [1]
Die Überwindung von Vorurteilen
Zur Wahrnehmung der Bedeutung des Dialogs und zu seinem Gelingen ist es erforderlich, die gegenseitigen Vorurteile zu überwinden, welche besonders im 19. Jahrhundert entstanden sind. Hier wurde durch weltanschaulich verabsolutierende naturwissenschaftliche Ideologien (z.B. materialistisch-monistische Totaldeutungsansprüche) die Geschichte der Entwicklung der Naturwissenschaften im Kontext von Philosophie und Theologie unsachgemäß und polarisierend als rein konfliktbeladen tradiert, was bis heute nachwirkt. Zudem zog sich die Theologie angesichts der weltanschaulichen Verabsolutierungen der Naturwissenschaften auf ihre vermeintlichen Spezifika wie etwa die sittlich-religiöse Orientierung zurück. Schöpfungstheologie wurde oft nur noch als die Reflexion des Bewusstseins schlechthinniger Abhängigkeit des Menschen und alles Endlichen von Gott (F.D.E. Schleiermacher) betrachtet. So entstand die bis heute vielfach gepflegte konstitutive Trennung von Theologie und Naturwissenschaft, die jede Seite auf ihre eigene Domäne verweist und somit kaum einen Dialogbedarf sieht. In diesem Horizont hält sich auch hartnäckig das Vorurteil, bei den Naturwissenschaften handele es sich um „Faktenwissenschaften“, die in ihren Ergebnissen auf Fakten beruhen, während die Theologie als Geisteswissenschaft mehr eine „Spekulative Wissenschaft“ sei, die vielfach mit unüberprüfbaren subjektiven Dimensionen zu tun habe. Solche Vorurteile zeigen die Notwendigkeit einer gegenseitigen Wahrnehmung der jeweiligen erkenntnistheoretischen und methodischen Voraussetzungen von Theologie und Naturwissenschaft, denn weder hat es Naturwissenschaft einfach mit Fakten zu tun noch ist Theologie spekulativ, was im Folgenden noch gezeigt wird. Entsprechend betont der Quantenphysiker und Theologe John Polkinghorne, es sei keineswegs so, „dass die Naturwissenschaften mit klaren und unzweifelhaften Fakten umgehen, während andere Disziplinen sich mit nebelhaften Meinungen zufrieden geben müssen“ (Polkinghorne 2001, 29). Und in Bezug auf die polarisierende Tradierung der Geschichte des Verhältnisses von Theologie und Naturwissenschaft im Sinne einer Gegnerschaft bleibt über die einzelnen unsachgemäßen Darstellungen (z.B. Galilei, Darwin) hinaus grundsätzlich festzuhalten, dass im Gegenteil erst der christliche Schöpfungsglaube maßgeblich die wissenschaftliche Betrachtung der Welt ermöglichte: Als Schöpfung Gottes wurde die Welt entgöttlicht und so in ihrer kontingenten Ordnung profaner Erforschung zugänglich. Zugleich ließ sie sich als eine dem göttlichen Willen gemäße Ordnung rational erfassen. Das bedeutet mit den Worten von Christoph Schwöbel: „Die als Konsequenz des christlichen Schöpfungsgedankens zu betrachtende Notwendigkeit, rationale Einsehbarkeit und Kontingenz zusammenzudenken, steht […] am Anfang moderner Naturwissenschaft.“ (Schwöbel 1992, 207) Das Postulat eines Gegeneinanders von Theologie und Naturwissenschaft entspricht also nicht dem Wesen der beiden Erfahrungsbereiche, was auch deutlich wird, wenn man betrachtet, wie sich Theologie und Naturwissenschaft jeweils als Erfahrungswissenschaft verstehen. (Insgesamt siehe Haudel 2021.) [2]
Erfahrung in Naturwissenschaft und Theologie
Menschliche Erfahrung vollzieht sich nach anthropologischer Erkenntnis grundsätzlich in unterschiedlichen Perspektiven. Mit der Erste-Person-Perspektive als unserer subjektiven Innenperspektive verbinden sich individuelle Empfindungen und Gefühle wie Glücks- und Leidensgefühle. Diese Teilnehmerperspektive ist letztlich unableitbar und nicht gänzlich zu verobjektivieren. Die Dritte-Person-Perspektive hingegen gewährt als Beobachterperspektive eine Außenperspektive, die allgemein objektivierbare Beobachtungen ermöglicht und die naturwissenschaftliche Erfahrung weitreichend prägt. Mit der Zweite-Person-Perspektive wiederum verbindet sich durch das „Du“ die Möglichkeit der Kommunikation mit den Mitmenschen oder auch mit der transzendenten Dimension. Die Erste- und Zweite-Person-Perspektive prägen in beträchtlichem Maße die existenzielle Verankerung in Bezug auf die kulturelle, ethische oder religiöse Orientierung des Menschen. Doch alle drei Perspektiven sind unhintergehbar miteinander verbunden. Denn weil das „Subjektive und Mentale“ stets „die Bedingung der Möglichkeit unseres Daseins als erkennende und eigenverantwortliche Wesen“ ist, stellt es auch den „unhintergehbaren Ausgangspunkt“ für das „wissenschaftliche Erkennen und Beschreiben“ dar, bei dem „der Mensch das eigene Subjektsein in objektivierender Betrachtung nicht vollständig einholen“ (Schockenhoff 2009, 49f.) kann. Materialistisch-reduktionistische naturwissenschaftliche Entwürfe, die die gesamte Wirklichkeit auf einen reinen Naturalismus reduzieren, werden dieser Komplexität ebenso wenig gerecht wie neurowissenschaftliche Versuche, Geistiges und Personales als rein physiko-chemische Prozesse darzustellen. Umgekehrt blenden theologische Ansätze, welche religiöse Erkenntnis maßgeblich in apriori gegebenen und somit allen Erfahrungen vorausgehenden Einsichten des Bewusstseins verankern, die Eingebundenheit des Menschen in den natürlichen Erfahrungskontext für die religiöse Erfahrung weitgehend aus. Doch der Mensch bedarf in seiner natur- und geschichtsgebundenen, physischen, psychologischen, geistigen oder spirituellen Komplexität des Zusammenspiels der verschiedenen Erfahrungsperspektiven, was dem Wesen moderner naturwissenschaftlicher Einsichten und theologischer Erkenntnisstrukturen grundsätzlich entspricht.
Aufgrund seiner quantenphysikalischen Wahrnehmungen hat bereits der Physiker Werner Heisenberg die Vielschichtigkeit der Erfahrung mit seiner „Schichtentheorie der Wirklichkeit“ betont. Sie beinhaltet, dass auf der untersten Schicht kausale Zusammenhänge klassisch-physikalisch in Raum und Zeit objektivierbar sind, während die nächsten Schichten (Quantenphysik, komplexe biologische Abläufe) solche Anschaulichkeit nicht mehr ermöglichen und die oberste Schicht den Blick für „den letzten Grund der Wirklichkeit“ (Heisenberg 1984, 302) – und damit für das Religiöse – öffnet. Auf dieser Ebene könne es keine reine Beobachterhaltung geben, da sie den Menschen in seinen existenziellen Grundlagen betrifft. Erst durch die Wahrnehmung der verschiedenen Erkenntniszugänge lasse sich naturwissenschaftliche Erkenntnis als Teil „einer einzigen sinnvoll geordneten Welt“ (Heisenberg 1984, 221) einordnen.
Die Eingebundenheit der Naturwissenschaften in die vielschichtige Gesamtwirklichkeit und ihre Offenheit für andere Erkenntniszugänge traten durch die tiefgreifenden naturwissenschaftlichen Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts hervor. Das naturwissenschaftliche Weltbild der klassischen Physik verkörperte im 19. Jahrhundert ein statisches und geschlossenes System, das durch lineare Gesetzmäßigkeiten determiniert und von umkehrbarer Zeit geprägt wird. Naturabläufe galten als prognostizierbar und man glaubte, durch Experimente objektive und reale Wirklichkeitsabbildung zu erreichen. Man ging weitgehend von einem atomistisch basierten Materialismus und einem ungeschichtlichen ewigen Universum mit ewigen Naturgesetzen aus. Damit verbanden sich oft weltanschauliche Totaldeutungsansprüche mit materialistisch-atheistischer Stoßrichtung. Durch die Relativitätstheorie, die Quantenphysik, die Thermodynamik (Wärmelehre) und die Mathematik vollzogen sich Anfang des 20. Jahrhunderts radikale Umbrüche des naturwissenschaftlichen Weltbilds. Es entstand ein prozessual-dynamisches Verständnis des Kosmos mit Anfang und Ende, als Grundbausteine der Natur galten jetzt weniger kleinste Teilchen, sondern vielmehr Strukturbeziehungen und ungreifbare nicht prognostizierbare energetische Ereignissprünge (Quantensprünge). Der Realitätsstatus von ungemessenen Quantenobjekten erwies sich als nicht feststellbar, da die Objekte die Potenzialität verschiedener Möglichkeiten verkörpern. Es zeigte sich, dass das Experiment die Natur zur Auslösung einer dieser Möglichkeiten nötigt und die Gesamteigenschaft gemessener Objekte unbestimmbar bleibt. Man war und ist also insgesamt mit Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten und Unbestimmtheiten konfrontiert und gewinnt lediglich partielle und selektive Einsichten in das Naturgeschehen, wobei der anschauliche Wirklichkeitsbezug des klassischen Realismus zerbrach. Durch unumkehrbare kosmologische, quantenphysikalische und thermodynamische Prozesse hielt die Geschichtlichkeit unwiderruflich Einzug in die Naturwissenschaft. Ferner offenbarte eine tiefgreifende Zäsur in der Mathematik, dass Mathematik und Naturwissenschaft über sich hinausweisen und auf Kriterien von außen angewiesen sind (Zweites Unvollständigkeitstheorem Kurt Gödels). Neben der neuen Dynamik und Offenheit wurde auch die weltanschauliche Eingebundenheit der Naturwissenschaften transparent: etwa philosophische Prämissen beim Experimentaufbau, der Ergebnisinterpretation und dem Naturverständnis – oder Vorverständnisse wissenschaftlicher Communities und interessegeleitete Forschungsfinanzierung. Nicht nur die Einsicht in die Dynamik und Offenheit sowie in die vielschichtige Eingebundenheit der Naturwissenschaften förderte die Dialogbereitschaft mit anderen Erkenntnisbereichen, sondern dazu trug auch die Wahrnehmung bei, dass Naturwissenschaft schon im eigenen Bereich nur zu selektiven und partiellen Ergebnissen gelangt und erst recht ihre Grenzen hinsichtlich anderer Wirklichkeitsbereiche ernst zu nehmen hat. Deshalb bleibt darauf zu achten, dass der methodische Naturalismus, der zur Erhebung funktionaler Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten dient, nicht in einen ontologischen bzw. weltanschaulichen Naturalismus umschlägt. (Siehe insgesamt Haudel 2021.) [3]
Auch theologische Erkenntnis und Erfahrung vollzieht sich in den Wirklichkeits- und Erfahrungsstrukturen dieser Welt, wenn auch auf spezifische Weise im Vergleich zur naturwissenschaftlichen Erfahrung. Weil christliche Theologie auf der heilsgeschichtlichen Selbsterschließung des dreieinigen Gottes beruht, ist Gott unter den Bedingungen der Welt erfahrbar. Deshalb „ist die Geschichte der Offenbarung Gottes selber eingebettet in den Zusammenhang dessen, was Menschen in dieser Welt und von dieser Welt erfahren und ohne diesen kontingenten Zusammenhang nicht zu haben“. Gott offenbart sich in der Geschichte unter den Strukturen kosmischer und menschlicher Wirklichkeit als Schöpfer, Erlöser und Vollender, so dass seine alles umfassende Offenbarung „nicht nur die […] Zusammenhänge der Erfahrungswirklichkeit zur Darstellung bringt, sondern über [allgemeine] empirisch fundierte Erkenntnis hinausweist, und zwar zurückweist auf den Grund der Wirklichkeit und vorausweist auf Erfüllung und Vollendung der menschlichen Existenz“ (Evers 2012, 405). Da auch „Offenbarung […] immer eine Form der Erfahrung“ darstellt, gilt für Theologie und Naturwissenschaft: Der „Königsweg der Erkenntnis“ besteht „in beiden Disziplinen in einem Begriff oder in Begriffen von ‚Erfahrung‘“ (Mühling 2016, 19 u. 38). Vor diesem Hintergrund sind die „unverfügbare persönliche Erfahrung mit der geschichtlichen Glaubenserfahrung […] und die empirische Wahrnehmung und rationale Erschließung der Natur“ zwar „kritisch zu unterscheiden, zugleich aber, weil im Lebensvollzug miteinander verbunden, in ihrer wechselseitigen Beziehung zueinander sorgfältig“ (Hübner 2004, 13) zu bedenken. Dann zeigt sich auch, in welcher Ausrichtung Theologie und Naturwissenschaft spekulativ werden und in welcher Ausrichtung sie tragfähige Erkenntnis bieten. Die Theologie hat ernst zu nehmen, dass Gott nicht einfach aus den natürlichen Gegebenheiten der Natur abgeleitet werden kann (natürliche Theologie), weil die Schöpfung zwar Spuren ihres Schöpfers aufweist, aber die damit gegebene Gotteserkenntnis ambivalent bleibt, insofern als der Mensch in seiner Selbstbehauptung bzw. Selbstvergöttlichung zur Identifikation Gottes mit Geschöpflichem oder mit sich selbst neigt (Röm 1, 18ff.). Tragfähige Gotteserkenntnis bedarf also der Wahrnehmung der heilsgeschichtlichen Selbsterschließung Gottes, die in der Erfahrungswirklichkeit verankert ist. Die Gefahr spekulativer Einsichten besteht, wenn Theologie Gott aus natürlichen Gegebenheiten vereinnahmend selbst rekonstruiert oder ihn allein im Bewusstsein bzw. im menschlichen Subjekt verankert. Naturwissenschaften werden spekulativ, wenn sie ihre Ergebnisse verabsolutieren und einen ganzheitlichen weltanschaulichen Deutungsanspruch erheben. Sind sie sich hingegen der partiellen, selektiven und annähernden Dimensionen ihrer Ergebnisse bewusst, liefern sie erfahrungsgerechte und angemessene Beiträge zum Wirklichkeitsverständnis. Es bleibt auch zu bedenken, dass etwa viele aktuelle mikro- und makrophysikalische Theorien ohnehin hochspekulativ sind, wie die Stringtheorien in der Teilchenphysik oder die kosmologischen Multiversumstheorien. (Siehe insgesamt Haudel 2021.) [4] Werden die erkenntnistheoretischen und inhaltlichen Einsichten von Naturwissenschaft und Theologie gegenseitig wahrgenommen, ergibt sich eine beachtliche Kompatibilität zwischen dem Handeln des dreieinigen Gottes und den aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.
Das Handeln des dreieinigen Gottes im Licht aktueller Naturwissenschaft
Während schon die Kirchenväter Spuren der Trinität (vestigia trinitatis) in der Weltwirklichkeit erkannten, und zwar von den Naturstrukturen bis zur Gottebenbildlichkeit des Menschen, finden sich heute erstaunliche Konvergenzen zwischen dem aktuellen naturwissenschaftlichen Verständnis der Wirklichkeitsstrukturen und dem Handeln des dreieinigen Gottes, das seinem innergöttlichen Wesen entspricht. Hier können nur exemplarisch einige Aspekte kurz anklingen (siehe ausführlich Haudel 2021, 288–386). So ist das biblische Verständnis vom Anfang der Welt und des Kosmos (creatio ex nihilo: Erschaffung aus dem Nichts) sowie vom Prozess der geschichtlichen Entwicklung und vom Ende der Welt und des Kosmos in ihrer jetzigen Form (Schöpfung, Erlösung und Vollendung mit neuem Himmel und neuer Erde) heute im Unterschied zum ewigen Universum des 19. Jahrhunderts kompatibel mit der Vorstellung vom Urknall und vom kosmologischen Prozess bis hin zu einem wahrscheinlichen Wärmetod des Universums, verbunden mit verschiedenen Spekulationen über Existenzformen jenseits der Gestalt des jetzigen Kosmos. Weil Gott der Schöpfung durch die Gewährung des Lebensraums zugleich Zeit und offene Zukunft eröffnet, damit für den Menschen die Möglichkeit freier Antwort und entsprechender Gemeinschaft mit Gott besteht, konnte etwa schon Augustin betonen, dass Gott mit der Schöpfung auch die Zeit geschaffen hat. Das wiederum ist kompatibel mit dem konstitutiven Zusammenhang von Raum und Zeit bei der vierdimensionalen Raumzeit der Relativitätstheorie – im Unterschied zur absoluten Zeit der klassischen Physik des 19. Jahrhunderts. Schon an diesen Zusammenhängen lässt sich zeigen, dass das Schöpfungshandeln Gottes seinem innertrinitarischen Wesen entspricht: Im ewigen Prozess gegenseitiger liebender Durchdringung von Vater, Sohn und Heiligem Geist besteht die einmalige Gleichzeitigkeit von zwischenpersonaler Gemeinschaft und innerpersonaler Einheit, so dass Gott die vollkommene Gemeinschaft der Liebe verkörpert. Wie sich die trinitarischen Personen zwischenpersonal gegenseitig Raum gewähren, können sie diesen Raum auch nach außen der Schöpfung gewähren, um sie an ihrer Liebe teilhaben zu lassen. Und wie in der innerpersonalen Einheit Gottes die ewige Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht, kann Gott der Schöpfung nach außen die geschichtliche Zeit in Form von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewähren, um diese mit seiner ewigen Liebe zu begleiten. Die Schöpfung geht also voraussetzungslos aus der Liebe des dreieinigen Gottes hervor, der ihr an seiner Liebe Anteil geben will. Dieser gewährten Gemeinschaft der Liebe bleibt Gott trotz der Abwendung des Menschen von Gott treu (Versöhnung), mit dem Ziel, diese Gemeinschaft zu vollenden (die Zeit mündet wieder in die Ewigkeit). Eine solche freie Gemeinschaft wird durch das Wesen des dreieinigen Gottes ermöglicht, weil es ein Verhältnis von „Gegenüber und Nähe“ zwischen Gott und Schöpfung bzw. Mensch erlaubt, das die Voraussetzung für Freiheit und für die Wahrung des je eigenen Wesens der Gemeinschaftspartner darstellt. Denn Gott der Vater bleibt das Gegenüber der Menschen, während er den Menschen im Heiligen Geist und im Sohn ganz nahe sein kann, bis hin zur Menschwerdung. In Entsprechung zu seinem innertrinitarischen Wesen als Quelle des ewigen Prozesses gegenseitiger Durchdringung tritt der Vater nach außen als Schöpfer in Erscheinung. Der daran beteiligte Sohn ist als innertrinitarisches göttliches Wort (Logos) und Abbild des Vaters, nach dessen Bild der Mensch und die Schöpfungswirklichkeit erschaffen wurden, diesem Wesen entsprechend zudem für die Offenbarung und Menschwerdung (Versöhnung) prädestiniert, während der ebenfalls beteiligte Heilige Geist als Vollzieher und Vollender der innertrinitarischen Gemeinschaft nach außen maßgeblich die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch und den Menschen untereinander vollzieht sowie die Vollendung für die gesamte Schöpfung realisiert. Dass zu Gottes schöpferischem Handeln auch die Kreativität der Natur gehört, zeigt etwa schon Gen 1,11 („Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut“), weshalb viele Kirchenväter darauf verweisen, dass der dreieinige Gott die Welt mit evolutiver Kreativität ausgestattet hat. (Siehe insgesamt Haudel 2021, Kapitel XI,1–2, und Haudel 2018, Kapitel VIII–X.) [5]
Das Verhältnis zwischen dreieinigem Gott und Schöpfung spiegelt sich auch in der heutigen naturwissenschaftlichen Einsicht wider, dass die Naturprozesse von Regelhaftigkeit und Spontanität geprägt sind. Der SohnGottes bzw. der ordnende Logos, das innertrinitarische Abbild des Vaters, nach dem und auf das hin alles geschaffen wurde (Kol 1,15f.), verkörpert nämlich das generative Prinzip der Selbständigkeit der Geschöpfe. Damit steht er für die Regelhaftigkeit und naturgesetzliche Ordnung, welche selbstorganisierende Systeme höherer Komplexität bzw. dauerhafte Gestalten ermöglicht (Gottes Treue). Der die innertrinitarische dynamische Gemeinschaft vollziehende Heilige Geist steht seinem Wesen gemäß nach außen für die Dynamik und Spontanität der Naturprozesse (Gottes Zukunftshandeln). Und erst das Zusammenspiel von Regelhaftigkeit und Spontanität gewährt sowohl die Existenz dauerhafter Gestalten als auch die Entstehung von Neuem und eröffnet so Freiheitsräume, die mit Zeit und offener Zukunft verbunden sind, was dem heutigen naturwissenschaftlichen Zeitverständnis entspricht (Quantenphysik, Thermodynamik: eine von Möglichkeiten geprägte Zukunft). Auf diese Weise werden offene Strukturen von Gemeinschaft und Liebe ermöglicht. (Siehe Haudel 2021, 300f., 342, 389f.; Schwöbel 1992, 217f.; Pannenberg 1991, 34ff.)
In den derart offenen Strukturen kann Gott nach dem Quantenphysiker und Theologen John Polkinghorne in Konvergenz mit der quantenphysikalischen Erkenntnis einer energieunabhängigen reinen Information (David Bohm) ständig und überall wirken bzw. Information vermitteln. Außerdem betont Polkinghorne, dass sich die innertrinitarischen relationalen Beziehungen als Spuren des Schöpfers analog auch in den Naturstrukturen wiederfinden. Denn nach den heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sind die Naturprozesse konstitutiv von Relationalität geprägt. (Vgl. Polkinghorne 2001, 62, 122, 153.) Entsprechend hebt Markus Mühling hervor, dass die dynamischen Evolutionsprozesse von vielen internen – wechselseitig konstitutiven – Relationen bestimmt sind, in Analogie zur innertrinitarischen Relationalität (vgl. Mühling 2016, 185ff.). Auch das immens komplexe menschliche Gehirn befindet sich nach neueren Einsichten der Hirnforschung als dynamisches und offenes System in ständiger wechselseitiger Relation mit dem gesamten Lebenskontext. Die menschliche Personalität insgesamt erweist sich als prozessuale Wechselwirkung zwischen Gehirn, Geist, Körper und Lebenskontext. Diese konstitutive Relationalität lässt wie andere physikalische und biologische relationale Grundstrukturen nicht nur Analogien zur innertrinitarischen Relationalität erkennen, sondern auch Analogien zu den Relationen zwischen Gott, Mensch und Schöpfung. So ist es nicht verwunderlich, dass sich das heutige individuelle und relationale Person- und Subjektverständnis letztlich den trinitätstheologischen Überlegungen der frühen Christenheit verdankt (siehe Haudel 2021, 371f., und Haudel 2018, 76).
Die vielfältige Kompatibilität der Strukturen von Natur und Mensch mit dem Wesen und Handeln des dreieinigen Gottes eröffnet eine ganzheitliche Wirklichkeitserkenntnis, die den naturwissenschaftlichen Einsichten gerecht wird und ihnen gleichzeitig eine ganzheitliche Einbindung und Sinndeutung durch das umfassende schöpferische, erlösende und vollendende Wirken des dreieinigen Gottes ermöglicht.
Matthias Haudel
Publiziert im Juni 2022
Prof. Dr. Matthias Haudel lehrt als Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Zugleich hat er noch einen Lehrauftrag für Systematische Theologie an der Universität Bielefeld. Für sein Werk "Die Selbsterschließung des dreieinigen Gottes" erhielt er als erster Theologe zum zweiten Mal den Theologie- und Ökumenepreis der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg. Der Preis für hervorragende wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Ökumenischen Theologie wurde ihm 1993 bereits für seine Dissertation "Die Bibel und die Einheit der Kirchen" verliehen. In seiner alle Bereiche der Theologie umgreifenden „Gotteslehre“ findet sich auch eine knappe Verhältnisbestimmung zu den Naturwissenschaften, die jetzt in aktueller und umfassender Form in seinem Buch „Theologie und Naturwissenschaft“ entfaltet wird.
Lesen Sie weiter im Buch „Theologie und Naturwissenschaft“ und gerne auch in der „Gotteslehre“.
Fussnoten
[1] Zur detaillierten Erörterung der Notwendigkeit des Dialogs siehe Matthias Haudel (2021): Theologie und Naturwissenschaft. Zur Überwindung von Vorurteilen und zu ganzheitlicher Wirklichkeitserkenntnis, Göttingen 2021, 15–54.
[2] Zu den gegenseitigen Vorurteilen und zur Geschichte ihrer Entstehung siehe Haudel (2021), Kapitel I u. V. Zum Wesen von Naturwissenschaft und Theologie siehe besonders Kapitel IV u. VIII.
[3] Zur ausführlichen Darlegung der naturwissenschaftlichen und mathematischen Umbrüche und zu ihrer Bedeutung für den Dialog siehe Haudel (2021), Kapitel VI.
[4] Zum Verständnis von Theologie und Naturwissenschaft und zu den Implikationen für den Dialog siehe Haudel (2021), besonders Kapitel I, 3.4; III–IV u. VIII. Zu den hochspekulativen mikro- und makrophysikalischen Theorien siehe Kapitel VII.
[5] Zum Wesen des dreieinigen Gottes und zur Relevanz, die es für die gesamte Wirklichkeit hat, siehe neben Haudel (2021) auch Haudel (2018): Gotteslehre. Die Bedeutung der Trinitätslehre für Theologie, Kirche und Welt.
Literatur
Evers, Dirk (2012): Theologie – Erfahrung – Wissenschaft, in: Petzoldt, Matthias (Hg.): Theologie im Gespräch mit empirischen Wissenschaften (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 35), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 377–407.
Haudel, Matthias (2018): Gotteslehre. Die Bedeutung der Trinitätslehre für Theologie, Kirche und Welt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/UTB, 2. Aufl. 2018.
Haudel, Matthias (2021): Theologie und Naturwissenschaft. Zur Überwindung von Vorurteilen und zu ganzheitlicher Wirklichkeitserkenntnis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/UTB.
Heisenberg, Werner (1984): Ordnung der Wirklichkeit (1942), in: Ders.: Gesammelte Werke, hg. v. W. Blum, H.-P. Dürr u. H. Rechenberg, Abt. C: Allgemeinverständliche Schriften, Bd. I, München: Piper, 217–306.
Hübner, Jürgen (2004): Kosmologie in Geschichte, Kunst und Theologie, in: Ders./Stamatescu, Ion-Olimpiu/Weber, Dieter (Hg.): Theologie und Kosmologie. Geschichte und Erwartungen für das gegenwärtige Gespräch (= Religion und Aufklärung 11), Tübingen: Mohr Siebeck, 3–41.
Mühling, Markus (2016): Resonanzen: Neurobiologie, Evolution und Theologie. Evolutionäre Nischenkonstruktion, das ökologische Gehirn und narrativ-relationale Theologie (= Religion, Theologie und Naturwissenschaft/Religion, Theology, and Natural Science 30), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Pannenberg, Wolfhart (1991): Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Polkinghorne, John (2001): Theologie und Naturwissenschaft. Eine Einführung. Aus dem Englischen von Gregor Etzelmüller, Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus.
Schockenhoff, Eberhard (2009): Wie frei ist der Mensch? Zum Dialog zwischen Hirnforschung und theologischer Ethik, in: Fürst, Martina/Gombocz, Wolfgang/Hiebaum, Christian (Hg.): Gehirne und Personen. Beiträge zum 8. Internationalen Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie in Graz, Bd. 1, Heusenstamm/Frankfurt (M.): Ontos, 41–53.
Schwöbel, Christoph (1992): Theologie der Schöpfung im Dialog zwischen Naturwissenschaft und Dogmatik, in: Härle, Wilfried/Marquardt, Manfred/Nethöfel, Wolfgang (Hg.): Unsere Welt – Gottes Schöpfung (= Marburger Theologische Studien 32), Marburg: Elwert, 199–221.
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Ganzheitliche Wirklichkeitserkenntnis?
Diskussion zum Leitartikel von Matthias Haudel
Fehlen uns ohne Theologie und ohne Naturwissenschaften wesentliche Perspektiven auf die eine Wirklichkeit?
Kommentare (2)-
Antworten
Die Frage ist, ob Theologie - in der gegenwärtigen Form - überhaupt etwas ist, das zu ZUVERLÄSSIGEN Erkenntnissen führt oder eben doch nur Spekulation ist, die von der Willkür des Menschen bestimmt ist. Theologisches Erkennen kann ja nur ein Erkennen esoterischer Zusammenhänge sein und dieser widerum mit den naturwissenschaftlichen Ergebnissen. Sonst ist und bleibt Theologie lediglich Schriftgelehrsamkeit.
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Danke für diesen fundierten Leitartikel.
Manfred Reichelt
am 01.06.2022Seit Jahrzehnten betreibe ich eine erkennende Theologie. Das Grundsatzpapier dazu findet man hier: https://www.academia.edu/21127861/Theologisieren_heute_Eine_notwendige_Besinnung
Auf academia finden Sie weitere interessante Arbeiten zum Thema. Übrigens: Hegel soll durch den Gedanken der Dreieinigkeit die Gesetzmäßigkeiten von These-Anthithese-Synthese entdeckt haben!
Luise Germann
am 08.06.2022Es wird für mich sehr schlüssig aufgezeigt, dass Theologie und Naturwissenschaft aufgrund der vielschichtigen Wirklichkeitserfahrung auf den Dialog verwiesen sind. Der dargelegte Zusammenhang der unterschiedlichen Perspektiven von Erfahrung ermöglicht eine fundierte Zuordnung von naturwissenschaftlicher und theologischer Erfahrung. Interessant finde ich, wie die jeweiligen Erkenntnisse aus diesen Erfahrungen zusammenpassen, besonders im Blick auf das Wirken des dreieinigen Gottes. Erkenntnistheoretisch aufschlussreich sind die Ausführungen, dass tragfähige Gotteserkenntnis durch die auch geschichtlich greifbare Offenbarung Gottes möglich ist und wo die Unterschiede zwischen tragfähigen und spekulativen theologischen Ansätzen liegen. Genauso hilfreich ist die vorgenommene Einordnung angemessener naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Im Blick auf weitere konkrete inhaltliche Dialogergebnisse, die sich aus beiden Perspektiven für eine ganzheitliche Wirklichkeitserkenntnis ergeben, bin ich gespannt auf das zum Artikel gehörende Buch.